Vom digitalen Fluch und Segen

Durch die Digitalisierung bekommen wir und unsere User jede Menge neuer Möglichkeiten.  Das aber ist Segen und Fluch zugleich. Deshalb: Schluss mit dem Entweder-Oder-Denken.

Es war ziemlich genau vor 15 Jahren, als ich das erste und einzige Mal in meinem Leben auf einem Podium beim Grimme-Institut saß. Damals arbeitete ich noch bei der Kirch-Gruppe, die den Älteren unter den Lesern womöglich noch ein Begriff ist. Ich sollte  die Ideen vorstellen, die es in der Gruppe zum Thema „interaktives TV“ gab und befand mich dabei in einer Art Konkurrenz mit einer Kollegin von Bertelsmann (vulgo: RTL). Ich präsentierte also die Idee eines leicht überdimensionierten Mega-Portals, das nicht weniger als ungefähr alles können sollte. Bei Bertelsmann/RTL hingegen dachten sie eher ans unmittelbare Geldverdienen. Beispielsweise so, dass man die Jeans, die Julia Roberts da gerade in „Pretty Woman“ trägt, sofort bestellen und nebenbei auch noch seine Kontoauszüge checken kann.

Ich hielt die Idee  für Unfug, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man beim Filmschauen Hosen bestellen und Kontoauszüge checken will. Weitgehend sollte ich mit meiner Skepsis recht behalten. Das Problem war, dass auch die Kollegen von RTL mit ihrer Skepsis gegenüber meinem Monster-Portal recht behalten sollten. Aus der geplanten Kathedrale wurde Jahre später eine eher bescheidene Hütte namens „Maxdome“ und Jeans bestellt man auch heute noch eher selten beim Fernsehen.

Dabei hatten wir doch unsere Modelle so schön mit Prognosen und Analysen unterfüttert. Ich hätte damals die Zahl der prognostizierten Highspeed-Anschlüsse und potentiellen Käufer auswendig herunterbeten können. Heute, mit dem Abstand von 15 Jahren, kann ich herzlich darüber lachen, welchen Unfug wir damals anscheinend glaubten. Und darüber, wie zukunftsgläubig wir waren, wenn uns nur ein irgendwie nach seriösem Berater aussehender Mensch chice Präsentationen um die Ohren haute.

Die Geschichte mit dem interaktiven Fernsehen fiel mir wieder ein, als ich das erste Mal an einem Smart TV rumspielte, von dem übrigens die Skeptiker, die es ja auch gab und gibt, immer wieder behaupteten, so etwas werde sich nie durchsetzen, weil kein Mensch Fernsehen mit Internet brauche. Tatsächlich ist also mal wieder was ganz anderes rausgekommen, als wir alle dachten. Fernseher heute sind Multimedia-Maschinen, die einem Computer immer näher kommen. Außer, dass man damit nicht arbeiten will. Aber ansonsten ist es so wie auf allen Geräten, auf denen plötzlich das Netz einzieht: Die ursprüngliche Funktion ist in den Hintergrund geraten. Kein Mensch denkt bei einem Smartphone in erster Linie an ein Telefon. So ist es jetzt auch beim Fernsehen. Smart-TV ist eine Gerätegattung, die alles mögliche kann. Unter anderem auch Fernsehen, wenn man das denn noch für nötig hält.

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So geht das mittlerweile seit 15 Jahren. Man meint gerade, eine Entwicklung halbwegs zu begreifen und daraus Idee und Strategien für die Zukunft ableiten zu können – schon ist alles wieder ganz anders. Wahllos herausgegriffen, ohne chronologische und inhaltliche Wertung:  Es gab „Second Life“, von dem es hieß, dass der Journalismus und die Medien der Zukunft auch dort stattfinden müssten. Springer gründete seinerzeit sogar mal eine eigene Zeitung für die Zweit- und Scheinwelt.  Dem Notebook wurde wahlweise eine herausragende als auch eine bescheidene Zukunft beschieden, der stationäre Rechner immer wieder mal für tot erklärt, das Tablet zum Gerät der Zukunft erklärt, ehe es in jüngster Zeit hieß, jetzt laufe es wohl doch eher auf das Smartphone und dort wiederum insbesondere auf das „Phablet“ als das Ding der Zukunft hinaus. Meine eigenen Handys waren in dieser Zeit wahlweise sehr groß, sehr klein, manchmal mit Deckel und manchmal ohne. Gemein war ihnen allen, dass man mir nach maximal einem Jahr des jeweiligen Modells sagte, dass dieses Modell jetzt aber so was von out sei und der Trend gerade ganz woanders hingehe. Ich habe deshalb geschmunzelt, als ich jetzt irgendwo gelesen habe, dass sich irgendwelche Apple-Nerds darauf freuen, wenn es demnächst tatsächlich ein iPhone Mini geben sollte. Hieß es nicht erst unlängst, dass es eigentlich auf die Größe ankomme?

Weiter auf der Liste: Die CD, die vom mp3-Format abgeschossen wurde, die wiederum iTunes erst groß und jetzt wieder eher klein machen, weil man mittlerweile nahezu alles streamen kann. In der Zwischenzeit werden in kleinen Nischen schon wieder horrende Preise für Vinyl-Alben bezahlt, die von den Anhängern dieses Tonträgers als das einzig Wahre bezeichnet werden. Für einen Toten geht es dem Vinyl jedenfalls ziemlich gut, wie übrigens auch den Büchern, die zwar zunehmend mehr digital gelesen werden. Ein Ende des gedruckten Buches kann man realistischerweise dennoch nicht absehen.

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Für all diesen Unfug – niemand wird mehr gedruckte Bücher lesen, es wird keine Medien, sondern nur noch Blogs geben – gab es irgendwann mal jemanden, der ihn geglaubt hat (Transparenz-Hinweis: Ich habe in den letzten 15 Jahren leider auch den einen oder anderen Unsinn geglaubt). Weswegen es so ganz am Anfang eines neuen Jahres eine gute Idee wäre, künftig den Absolutheits-Propheten keinen größeren Glauben mehr zu schenken. All jenen, die genau wissen, was in den kommenden Jahren passieren wird. Die die absoluten Entwicklung predigen, vom Verschwinden von irgendwas und dem Neuen, das angeblich schon ganz eindeutig am Horizont zu erkennen ist.

Weil der eigentliche Wert der Digitalisierung eben nicht darin liegt, dass man sich von irgendwas verabschieden muss. Stattdessen bekommen wir schlichtweg sehr viel mehr neue Möglichkeiten und auch Freiheiten dazu. Wer Musik lieber auf Vinyl hören will, hat dazu inzwischen genauso seine Möglichkeiten wie die Liebhaber des Streamings. Man kann sich gedruckte Bücher in das Regal stellen oder sie in einem Reader lesen. Man kann sich einen Film im Kino anschauen oder im TV oder auf DVD oder Blue-Ray oder im Netz oder gestreamt auf dem Fernseher. Man kann die Zeitung im Netz lesen oder eben doch gedruckt oder eben auch gar nicht. Oder, um nochmal auf die Hardware zurückzukommen: Man wird auch weiterhin mit dem Smartphone telefonieren können. Muss man aber nicht.

Das ist auf der einen Seite eine ganz wunderbare Sache. Und gleichzeitig eine, die dafür sorgt, dass die Debatten darüber so heftig sind. Weil es natürlich auch furchtbar verwirrend ist, wenn man so unendlich viele Optionen hat. Die Idee, dass es im Supermarkt 27 verschiedene Joghurts im Regal gibt, ist natürlich toll, weil man so viele Möglichkeiten hat. Menschlich ist es aber auch, dass man das verwirrend findet und sich manchmal wünscht, da stünden nur zwei Sorten.

Es wäre also alles in allem eine schöne Sache, würden die Entweder-oder-Debatten an ihr Ende kommen. Darum geht es nämlich gar nicht. Die entscheidende Frage für den Journalismus 2015 wird vielmehr sein: Wie bekommen wir es hin, aus dieser Flut von Möglichkeiten so etwas zu gestalten, dass am Ende die Nutzer glücklich sind – und wir damit trotzdem genug verdienen, um uns auch weiterhin um solche Fragen Gedanken zu machen?

Oder, um im Bild zu bleiben: Genügend verschiedene Joghurts haben wir jetzt hergestellt.  Jetzt müsste sie nur noch jemand kaufen.

Das Foto auf dieser Seite stammt von Jens Schmitz/pixelio.de

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ronny

    Bei der Schwierigkeit, ja fast Unmöglichkeit von Prognosen im digitalen Bereich, stimme ich dir vollkommen zu. Aber genau dieser Punkt macht die Zukunft diesbezüglich auch so spannend. Keiner kann mit Gewissheit sagen, was uns in 5-10 Jahren in seinen Bann zieht. Ich bleibe jedenfalls gespannt und bleibe für (zumindest fast) alles offen 🙂

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