Sturmgeschütz der Verlogenheit

Als ich mich zum ersten Mal wunderte, wie verlogen Politik ist, war ich Anfang 20, war auf einem kleinen Termin für meine Lokalredaktion, stand bei einer Gruppe von lokalen Politikmittelgrößen und lauschte, wie sie sich gerade ziemlich ungeniert das Maul zerrissen über ein paar Menschen, von denen ich damals noch dachte, das „Freunde“ im Begriff „Parteifreunde“ sei auch nur im Ansatz ernst zu nehmen. Mich wunderte, wie sie damals übereinander herfielen — und noch mehr wunderte es mich, wie sehr der Ton sofort umschlug und die Gesichter sich veränderten, als diejenigen, die man gerade noch auf den Grill gelegt hatten, den Raum betraten. Seitdem bin ich froh, wenn ich mit Politik nicht viel zu tun habe. Manche nennen das professionell, ich finde es eher widerlich.

Mein Eindruck, den ich damals in kleinen Lokalredaktionen gewann, sollte mich nicht täuschen, auch später nicht, als die Redaktionen größer und die Politikernamen durchaus bekannter waren. Und auch das Zusammenspiel zwischen Journalisten und Politikern funktuoniert fast überall gleich, egal ob in Berlin oder in Dingolfing. Sie brauchen sich, sie mögen sich nicht, sich zerreißen sich das Maul übereinander und wenn sie sich gegenseitig brauchen, haben beide keine Hemmungen, sich gegenseitig zu instrumentalisieren.

Und damit kommen wir jetzt endlich zu den neuesten Wikileaks-Veröffentlichungen, aus den in Deutschland der „Spiegel“ ein enormes Brimborium gemacht hat; begleitet von „Bild“, wo man meinte zu enthüllen, was die „Amis“ wirklich über Deutschland dächten. Was sie dann wirklich denken, die Amis, das was dann so harmlos, dass man sich wundern muss, dass alle Welt in helle Aufregung verfällt. Man hält also Westerwelle für einen ziemlich eitlen Gockel, dessen größte Liebe und Kompetenz nicht gerade die Außenpolitik sei? Stand mehr oder minder so schon in Dutzenden aufgeplusterten Leitartikeln deutscher Zeitungen. Merkel sei nur selten wirklich entschlossen und kreativ? Ja sowas. Das darf beim „Spiegel“ jeder kleine Autor aus dem Deutschland-Ressort seit Jahren ungestraft schreiben, manchmal hat man sogar den Eindruck, es gebe einen Bausteinkasten für Politik-Autoren, in denen das festprogrammierte Phrase im CMS steht.

Und so geht es weiter, über 17 quälend lange Seiten, in denen der „Spiegel“ immer wieder Brisanz in etwas reinzuschreiben sucht, was inhaltlich vollkommen unbrisant ist. Die einzige vermeintliche Brisanz entsteht dadurch, dass andere beim Lästern erwischt worden sind und irgendjemand das jetzt publiziert. Der „Spiegel“ und der Jornalismus überhaupt tun weder sich noch anderen einen Gefallen damit, diesen Unsinn zu veröffentlichen. Die Dokumente von „Wikileaks“ bieten keinerlei wirklichen Erkenntniswert — oder hat wirklich ernsthaft jemand geglaubt, dass die sich alle so mögen, wie sie immer tun und vorgeben? Sie bedienen ein bisschen Voyerurismus und die Neigung, Politik zu banalisieren, ohne eine einzige wirkliche Nachricht zu generieren. Man merkt das auch daran, wie bemüht der „Spiegel“ in seinen 17 Seiten immer wieder darauf aufmerksam macht, dass das jetzt aber schon ein Knüller sei, was da jemand, irgendein aufstrebender Streber aus der FDP, den Amis in der Einschätzung zu Schäuble nahegebracht hat. Und man merkt es am anschließenden Interview mit dem US-Botschafter, der sagt, was zu sagen ist: blöd jetzt, das werden ein paar unangenehme Tage und man wird sich wohl ein bisschen entschuldigen müssen — aber das war es dann auch. Und glaubt denn bitte umgekehrt irgendjemand, dass in den Giftschränken deutscher Parteien und Regierungsstäbe nicht ähnlich unschöne Formulierungen über US-Politiker zu finden sind?

Ich glaube, dass „Wikileaks“ und die begleitenden Medien sich mit dieser Veröffentlichung und dem großen Ballyhoo darum keinen Gefallen tun. Weil sie die bisherigen Scoops entwerten, weil sie erschütternde und wirklich brisante Dokumente aus dem Irak oder aus Afghanistan plötzlich gleichsetzen mit politischer Schlüssellochguckerei.

Und, ach ja: Bevor die Leitartikler des Landes heute wieder ausholen und interpretieren und kommentieren, wie skandalös und brisant das alles doch sei, besser selber mal ins Archiv schauen. Und sicher gehen, ob sich da nicht Sachen wie diese finden:

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

  1. Ulrike Langer

    Lieber Christian,

    mach bitte nicht den Fehler, die Brisanz und Relevanz der geleakten Wikileaks-Dokumente nur daran zu messen, welche eitle deutsche Selbstbespiegelung der Spiegel daraus gemacht hat.

    Abgesehen von dem alten Ego-Spielchen „Wie sieht uns das Ausland?“ steckt doch einiges Aufschlussreiches in den Dokumenten. Wenn heimlich biometrische Daten von der UNO-Führungsriege erhoben werden sollen oder die Regierungen der USA und Großbritannien ihre spendenwilligen und steuerzahlenden Bevölkerungen bewusst im Unklaren darüber lassen, dass ein großer Teil der Hilfen für Afghanistan offenbar schon am Flughafen von Kabul abgefangen und ins Ausland geschafft werden – ist das wirklich „von keinerlei Erkentniswert“?

  2. cjakubetz

    D´accord – aber das ist ja genau das, was ich meine. Geredet wird doch nicht darüber (geschrieben auch nicht) – sondern lediglich darüber, wen die Amis jetzt mögen und wen nicht. Ich habe heute noch nichts über Kabul und biometrischen Daten gelesen, sondern nur darüber, wie die Amerikaner angeblich die Welt sehen. Und vor lauter Gerede darüber geht alles andere unter. Das ist ziemlich grotesk, oder?

  3. cjakubetz

    Stimmt – und kannst du jetzt auch noch die Links zu den entsprechenden Geschichten in deutschen Medien hinterherschicken :-)?

  4. Dierk

    So weit ich das beurteilen kann, haben sich die deutschen „Leit“medien – und alle anderen – schon vor 20 oder 30 Jahren aus der politischen Diskussion verabschiedet und kommen nur auf massiven Druck von außen das eine oder andere Mal darauf zurück. Ansonsten sind es eben genau die eitlen Pfauen von Spiegel, Welt, Stern, FAZ, FR und so fort, die unseren politischen Diskurs zu einer banalen Vorabend-Soap gemacht haben. Natürlich interessiert sie dann auch bei diesen Dokumenten nur, wer über wen schlecht redet – der Gehalt ist fast so niedrig wie beim angeblichen Climategate.

    Nun ja, erreicht haben sie, dass in allen Blogs und auf Twitter nun über die Lächerlichkeit Wikileaks‘ geschrieben wird, statt über die Aufgabe des Journalismus, wie Wikileaks sie explizit benennt: Analyse der Daten. Also genau das, was deutsche Medien nicht mehr tun.

  5. S. Michael Westerholz

    Sowohl im SPIEGEL, als auch hier stimmt ALLES:
    Was Westerwelle ist und wie die Kanzlerin, dass Seehofer keinen wirklichen Standpunkt hat und als Person in der Bundesrepublik keine Leit-Rolle mehr hat, sondern nur noch eine Nebenrolle spielt und dadurch auch die CSU nicht – alles schon Thema des SPIEGEL. Darum hat Ch. J. es richtig getroffen: Nix Neues, keine Analysen, nichts, was die Welt oder auch nur die BRD bewegt und Menschen hilft. Küchengeschwätz – wie hätte der große Augstein wohl darauf reagiert?

  6. Jovog

    Es ist bezeichnend, dass in den deutschen Medien der Eindruck entsteht, die Aussagen über Merkel & Co seien das Entscheidende an den Wikileaks-Dokumenten. Nur wer bei der Veröffentlichung am Sonntagabend zum Guardian surfte, erfuhr, dass es um ganz andere Dinge geht – um die brisante Einschätzung der Nuklearmacht Pakistan durch die USA zum Beispiel oder Druck auf die USA zu einem Schlag gegen Iran.

  7. Uwe P

    Messbare Wahrheiten lassen die Priester der Nationen erschaudern, denn sie haben das Reich der Mythen verlassen und sind ins Licht der Massenrealitäten getreten.

    Sucht den Messias! Kreuzigt ihn!

    *… nächster Punkt der Tagesordnung?

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