Amoklauf: Jetzt live!

(Vorab: Mit dem folgenden Beitrag tue ich mich selber etwas schwer; vielleicht sehe ich das morgen auch schon wieder ganz anders und vielleicht mache ich mich des Gutmenschentums verdächtig. Trotzdem.)

Mir ist klar, dass wir Journalisten auch über grausame Dinge berichten müssen. Mir ist ebenso klar, dass es gerade diese Dinge sind, die, ganz nüchtern betrachtet, die meisten Quoten machen. Zynisch betrachtet also treibt eine Geschichte wie der Amoklauf heute in Baden-Württemberg Klicks, Quoten und Auflagen eher nach oben als eine Bundestagsdebatte. Das ist vermutlich systemimmanent und per se auch nicht zu kritisieren.

Beim Anblick meines Twitter-Accounts hätte ich heute dennoch kotzen können. Vom späten Vormittag bis in den Abend marktschreierisches Geplärr im Stile von (O-Ton): Die Presse-Konferenz: Jetzt live on tape bei N24! Die Kollegen vom Sender waren nicht die einzigen. Fortlaufend wurde mir angepriesen, welche sensationellen News man jetzt gerade wieder ausgegraben habe und wo sich die Reporter des Hauses gerade befinden („…passieren gerade die Straßensperre.“).

Amoklauf! Jetzt live! Jetzt einschalten! Jetzt dabei sein, wir sind schon vor Ort für Sie! Wenn das die Zukunft des Journalismus ist und wenn es das ist, was uns Twitter als tolles neues Medium bringt, kaufe ich mir sofort eine Schreibmaschine und lebe fortan wieder analog. Dass der Turi2-Feed auch noch am Mittag twitterte, dass „Peter Turi eine eintsweilige Erschießung beantragt“ gegen Medienmacher, die dem von ihm empfohlenen Link nicht folgen, war der traurige Gipfel eines Tages, an dem ich mich ganz unzwonullig gefragt habe, ob die lieben Kollegen in den Redaktionen eigentlich noch alle Latten am Zaun haben.

Journalismus? Eher ein digitaler Fischmarkt. Es widert mich an.

Dieser Beitrag hat 12 Kommentare

  1. Gerd Kamp

    Zum Tweet von Herrn Turi passt dann ja der verwendete URL-Shortener http://arm.in .-)

  2. pje

    Den Pistoleros folgen die Coyoteros.Das ist das Gesetz der Gesetzlosen. Ich habe schon lange aufgehört, mich für diese „Kollegen“ zu schämen.

  3. Blogchef

    Mich auch. Habs auf Twitter gestern mitbekommen und bin immernoch schwerst angekotzt!

  4. itha

    dagegen gibt es etwas: keinen fernseher besitzen, nicht auf stern.de lesen, nicht twittern. ihr habt die wahl.

  5. Mitreder

    Guter Artikel, dennoch, wie blitzmerker schon schreibt, es ist nicht das Gezwitscher, es ist nicht das Internet, es sind die Schmierfinken dieser bestimmten Kaste, Es sind auch nicht Waffen, die Menschen töten oder Amokläufe veranstalten, es sind Menschen. Ich glaube auch, das es noch nicht die das Ende der Fahnenstange, noch lange nicht. Die netten Nachbarn von über den ganz großen Teich leben uns noch ganz andere Grausamkeiten in der Berichterstattung vor. Auf einschlägigen Sendern werden Fernsehprogramme unterbrochen um live vom Hubschrauber aus Bankräuber bei der Flucht zu verfolgen und wenn diese von der bewaffneten Staatsmacht zur Strecke gebracht wird, wird voll draufgehalten. Das will der Mensch anscheinend sehen. Anscheinend lassen wir Menschen uns nach und nach so weit abstumpfen. Mich wundert, dass die Berichterstattung hier in Deutschland noch nicht so “weit” ist wie in den USA, dennoch, es werden noch ganz andere Zeiten kommen.

  6. cjakubetz

    Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich halte das Medium auch erst einmal für restlos unschuldig. Erst einmal ist Twitter genauso wenig gut oder böse wie Blogs. Was man im konkreten Fall daraus gemacht hat (inhaltlich), das finde ich erbärmlich. Obwohl man natürlich auch darüber nachdenken können, ob es nicht auch die äußere Form von Twitter ist, die so etwas zusätzlich befördert. 140 Zeichen, schnell und einfach rausgehauen, das kann vermutlich zu einem solchen Unsinn zusätzlich verführen.

  7. itha

    ja. es gibt einen zusammenhang zwischen den ästhetischen möglichkeiten eines mediums und dessen inhalt bzw. rezeption. menschen gestalten medien, keine frage. aber da funktioniert auch etwas umgekehrt, in der form, dass medien menschen gestalten.

  8. laZee

    Mich schockiert das nicht ansatzweise. Das ist doch dasselbe, wie ein Live-Journalist, dem ein Kameramann am Hacken hängt. Der passiert auch gerade die Straßensperre. Nur das Medium ist anders.

    Was im Detail unterscheidet sich denn jetzt von früher? Das es mehr „live“ ist? Dass das Medium Twitter dafür (zumindest in D) entjungfert wurde? Ich bitte euch.

  9. mikel

    und ewig dreht sich die Journallie im Kreis, immer nur sich selbst im Visier, kennt nur „Berichterstattung“ der „Kollegen“ …..

    Twitter und Blogs haben zunächst nichts, aber auch gar nichts mit Euch zu tun. Könnte man recherchieren, könnte man, aber ihr lest Euch ja lieber selbst.

    Twitter hat ein schönes Feature. entfollow, block

    aber Kollegen entfollowt man nicht, oder?

    wie gesagt, es hat eigentlich nichts mit Euch zu tun

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