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Eine kleine Geschichte der „Zeit“

Eigentlich sollte dieser Beitrag aus der hübschen Reihe „Eine kleine App-Kritik“ stehen, dann aber fiel mir auf, dass ich bei speziell dieser App viel zu spät dran bin. Und weil außerdem morgen schon die FAS-App besprochen wird und zudem sich aus dieser ursprünglich geplanten Geschichte noch ein paar andere Aspekte ergeben haben , die über eine App-Besprechung hinausgehen. Aspekte, die zeigen, dass so ein Kanalwechsel mehr sein kann als nur die Reproduktion von analog zu digital.

Die App, um die es zunächst gehen sollte, ist die neue App der „Zeit“. Die gibt es schon einige Wochen, von dem her könnte eine solche App-Besprechung nicht wirklich neues erzählen. Aber wieso hat es überhaupt so lange gedauert, dass ich die neue App in die Hand nahm?

Das hatte zwei Gründe.

Der erste: Natürlich steigt die Auflage der „Zeit“ nach wie vor unaufhörlich. Man nennt sowas gerne Erfolgsgeschichte. Unbestritten ist, dass das Blatt besser geworden ist, seit es von di Lorenzo gemacht wird.

Ich mag die „Zeit“ trotzdem immer noch nicht sonderlich. Zumindest die gedruckte.

Die „Zeit“ und ich, das ist ein langer, harter Kampf. Ich hatte sie drei- oder viermal im Probeabo, einmal sogar für etwas längere Zeit. Warm geworden bin ich mit ihr nie. Das war (und ist mir heute noch manchmal) zu tantig, zu bräsig. Bei der „Zeit“ muss ich an Männer in Tweedsakkos denken. An besorgte Oberstudienräte. Und an Feuilletonisten, die vor laufender Kamera erzählen, warum es ganz ok ist, wenn in München zwei Jungs einen Rentner in der U-Bahn halbtot schlagen. Was motzt er sie auch an und macht ihnen das Leben so unangenehm? Vieles war mit auf der anderen Seite wieder zu staatstragend und wenn sich die Redaktion mal um so etwas wie Ironie bemühte, wirkte das so, als hätte man Angela Merkel gezwungen, einen Witz zu erzählen. Und schließlich: Mit dem Format bin ich nie warm geworden. Ich mag große Zeitungen, aber bei der „Zeit“ wusste ich nie, wie ich sie halten soll.

Kurzum, ich hätte die Zeit allen Lorenzo-Effekten zum Trotz vermutlich schon lange nicht mehr auf dem Radar, gäbe es nicht „Zeit Online“, das sich in den vergangenen Jahren eindeutig zu den besseren unter den deutschen Onlineangeboten entwickelt hat. Mir gefällt deren Idee,  sich nicht um jeden Preis für den billigen Klick anbiedern zu wollen. Mir gefällt, dass man dort ohne offensichtliche Zugeständnisse an vermeintlich quotenträchtige Themen auskommt. Ja, auch bei „Zeit Online“ bricht das Tantige der „Zeit“ immer wieder mal durch. Trotzdem, das Thema Online können sie ganz gut dort, wovon auch eine ipad-optimierte Seite und eine frühzeitige App-Entwicklung aus dem vergangenen Jahr zeugen. Diese App war den damaligen Umständen entsprechend sehr ordentlich, trotzdem kam ich mir wieder vor, als müsste ich zwei Kilo Altpapier auf einem gefühlten Quadratmeter ausbreiten, Usability war jedenfalls nicht die zwingende Stärke dieser App. Wenn man was aus ihr lernen konnte, dann das: Ein orpulentes Blatt mal eben auf ein paar Zoll runterrechnen, funktioniert nur sehr, sehr eingeschränkt. Wieder mal also war die „Zeit“ aus meinem Leben verschwunden, trotz aller Lorenzos und Blaus.

Deswegen hatte ich die neue App erst gar nicht registriert, ich dachte eher, es sei ein Upgrade — und ich dachte mir im Stillen: Liebe Zeit, ich habe dir in meinem Leben so viele Chancen gegeben, wir werden einfach keine Freunde mehr. Kann ja mal vorkommen. Ausprobiert habe ich sie dann doch, wegen der zugegeben wunderbaren Überschrift „Noch jemand ohne Burn-out?“ und der Tatsache, dass sich mein hübsches Schweizer Domizil auch dadurch auszeichnet, in allem etwas teuer zu sein. Deswegen die App — und deswegen jetzt nachträgliches Staunen. Weil ich in Deutschland momentan niemanden kenne, der seinen App-Job besser machen würde. Ich mag die zurückgenommene Optik, den klugen Einsatz von multimedialen Elementen, die stringente Navigation. Und ich habe plötzlich keinen Alptpapierschinken mehr in der Hand, sondern ein hübsches Digitalmagazin, das zu lesen…ach nee, kann das sein, dass die Verpackung dann doch irgendwie das Vergnügen mitbestimmt? So lange wie mit der aktuellen Ausgabe habe ich mich jedenfalls schon lange nicht mehr mit der „Zeit“ aufgehalten. Was möglicherweise auch ein Beleg dafür ist, dass es eben nicht nur darum geht, irgendwie Bestandskundschaft noch ins neue Zeitalter hinüberzuretten. Sondern dass so ein Tablet eben auch die Wiederentdeckung vom Spaß am Lesen (schauen, hören) sein kann. Wenn sie also nicht gerade wieder mal Guttenberg auf dem Titel haben, schaue ich mir die „Zeit“ jetzt vielleicht doch wieder öfter an.

Morgen übrigens kommt die FAS. Die Latte hängt hoch.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. matthias

    „Unbestritten ist, dass das Blatt besser geworden ist, seit es von di Lorenzo gemacht wird.“
    Aus meiner Sicht und meinem Umfeld ist das alles andere als unbestritten. Im Gegenteil: Hier herrscht eher der Eindruck, dass sie seit dieser Zeit schlechter geworden ist/wird. So etwas wie der Guttenberg-Titel ist da durchaus Symptom. Aber das nur nebenbei …

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