Klar ist die re:publica geil. Keine neue Feststellung, haben wir alle tausendmal gelesen und gepostet. Trotzdem ist für mich die größte Heldin dieser Tage jemand, der gar nicht da war. Weil ich dadurch kapiert habe, was wirklich zählt. Und wie privilegiert, abgehoben und manchmal leider auch unerträglich überheblich wir in unseren digitalen Peergroups oft genug sind…Read More
Während des Vortrags von Bernhard Pörksen zu den Filterblasen, die es gar nicht gibt und der Debatte darüber, ob man nicht viel eher von Filter Clashes sprechen müsste, hatte ich eine Form des digitalen Multitaskings, wie man es inzwischen ja so oft erlebt und was in den meisten Fällen eher ungesund und unangenehm ist. In diesem Fall nicht. Weil am anderen Ende von WhatsApp meine Frau war. Und während ich also gerade in meiner Parallelwelt der rp saß und über den Unterschied zwischen Bubbles und Clashes nachdachte, schrieb mir meine Frau aus dem echten Leben.
Man muss dazu wissen: Meine Frau ist Lehrerin. Kein kuscheliges Gymnasium, keine nette Realschule. Sondern eine Mittelschule. So heißen in Bayern inzwischen die meisten Hauptschulen, damit es sich netter anhört als es ist. Nicht falsch verstehen: Meine Frau liebt ihren Job. An einem Allerweltsgymnasium könnte man sie sich nicht wirklich vorstellen.
Momentan hat sie eine 8. Klasse als Klassenlehrerin. An einer Mittelschule bedeutet das: Totalbetreuung in fast allen Fächern. Meine Frau unterrichtet Mathe ebenso wie Englisch und Sport genauso wie Kunst. Tatsächlich aber ist sie in den letzten Jahren ungewollt zu einer Art Sozialarbeiterin geworden. Und zu einer Integrations- und Inklusionsbeauftragten, ohne das jemals gelernt zu haben. Aber so ist das halt: Der Staat beschließt irgendwas, die re:publica entwirft Visionen. Und umsetzen müssen es andere. Wenn es nicht klappt, haben halt die versagt, die es nicht richtig umgesetzt kriegen, so einfach ist das (by the way: Im Klassenzimmer meiner Frau gibt es Tafel und Kreide, kein Whiteboard und auch kein Internet, so viel zum Thema Digitalisierung unserer Bildung).
In der Klasse meiner Frau gibt es die multikulturelle Gesellschaft schon lange, zu der wir auch dieses Jahr wieder u.a. Sascha Lobo gehört haben (und jetzt nicht gleich wieder beleidigt sein, weil ich dich in einem Halbsatz erwähnt habe). Ich kann die verschiedenen Nationen und Religionen kaum aufzählen. Es gibt Flüchtlingskinder, es gibt welche aus den Milieus, die wir gerne aus unserer theoretischen Warte heraus als „sozial schwach“ bezeichnen. Manche sprechen gar kein oder kaum Deutsch. Und es gibt welche, die, vorsichtig formuliert, mit den Methoden der konventionellen Pädagogik kaum zu erreichen sind. In den letzten Jahren hat meine Frau viele Kids unterrichtet, die jede Mühe wert sind.
Sie kennt aber auch welche, die sitzen inzwischen im Knast. Mit 16 oder 17.
Das ist, nebenher bemerkt, auch eine Form des Kampfes für eine bessere Gesellschaft, wenn man sich da jeden Tag ins Getümmel stürzt. An deutschen Haupt- und Mittelschulen haben Schüler schon auch mal ein Messer in der Tasche. Man braucht ganz schön Eier, um da jeden Tag reinzugehen. Und man darf sich nicht auf Podien stellen und Mimimi machen. Für diesen Kampf bekommt man aber leider eher Geringschätzung: Ach ja, unsere Lehrer, da liegt ja irgendwie auch einiges im Argen…
Zurück also zum Panel, bei dem Professor Pörksen, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, mittellange Haare, weit ausholte und uns den Unterschied zwischen Clash und Bubble vorführte. Kapiert habe ich ihn nicht, aber das kann auch an der Unkonzentriertheit gelegen haben, weil viele Nachrichten meiner Frau eintrafen. Just in dem Moment nämlich, als sich so ungefähr 1000 Leute das Hirn zu Pörksen zermarterten, war sie auf einer Preisverleihung.
Keine Sorge, keine Preisverleihung für sie. Lehrer, zumal solche an den Mittelschulen, bekommen keine Preise (für Journalisten, nebenbei bemerkt, gibt es mittlerweile so viele Preise, dass man sich wundern muss, wenn einer im Laufe seines Lebens keinen bekommt; soviel zur Selbstverliebtheit der Branche).
Die Preisverleihung, um die es hier geht, war eine für Schüler und Jugendliche. Ein kleiner Kreativwettbewerb. Meine Frau und ihre Klasse hatten sich beteiligt, ohne allzu große Hoffnung allerdings. Weil der Wettbewerb keine Unterschiede zwischen 13- und 20jährigen machte und auch keinen zwischen Gymnasium und Mittelschule und professionellen Teilnehmern. Man sagt nichts politisch unkorrektes, wenn man festhält: Normalerweise sind da die Chancen einer 8. Klasse Mittelschule nicht so wahnsinnig groß.
Trotzdem waren sie eingeladen zu der Preisverleihung – und schon das war ein riesiges Erlebnis: Raus aus der Schule, ab in die nächste Großstadt Augsburg, dort einen ganzen Tag verbringen statt in die Schule zu gehen und dann noch eine richtige Preisverleihung. Da war bisher noch keiner von denen und ohne hundertprozentige Gewähr würde ich sagen: Einen Preis haben die allermeisten von ihnen auch noch nie bekommen.
Halbzeit unterdessen bei Pörksen, der gerade erklärt, dass es höheres Konfliktpotential gibt in Flugzeugen, in denen es eine erste und eine zweite Klasse gibt. Die in der ersten fühlen sich von denen in der zweiten gestört und die in der zweiten bemerken, dass es ja auch noch sowas wie eine erste Klasse gibt (ich hoffe, ich habe das richtig so zusammengefasst, Herr Pörksen). Innerlich muss ich lachen. Weil mir der Alltag meiner Frau wieder einfällt und ich daran denken muss, dass die allermeisten dieser Kids nicht wissen, dass es eine erste und zweite Klasse im Flieger gibt, weil sie noch nie eine Verkehrsmaschine von innen gesehen haben. Demnach müsste übrigens deren Leben ziemlich konfliktfrei verlaufen, was es aber häufig nicht tut.
Meine Frau und ihre Klasse hatten mittlerweile ihre Plätze eingenommen, große Aufregung inzwischen: Auf welchem Platz würden sie wohl landen? Und gibt es vielleicht, so wie im Jahr davor, für die Teilnehmer, die es nicht ganz nach oben geschafft haben, wieder Kino-Gutscheine als Trostpreis? Was eine schöne Anerkennung wäre, weil die Klasse meiner Frau sich echt verdammt große Mühe gegeben hat: ein kleiner Film, alle Szenen selbst gescriptet, selbst gespielt, tagelange Arbeit.
Unterdessen ist Herr Pörksen am Ende angelangt, es gibt freundlichen Applaus.
Danach kommen u.a. Dunja Hayali und Kai Gniffke. Dunja Hayali gilt in unseren Kreisen gerade als eine Art Superwoman, weil sie nicht nur große Reden schwingt, sondern sich auch mal mitten ins Getümmel stürzt. Sie ist, denke ich mir, während sie die Stage gerade umbauen, vermutlich eine der ganz wenigen unter diesen Speakern hier, die eine Ahnung haben, wie das Leben an Mittelschule und ihren Umgebungen so tickt. Auch in diesem Podium wird öfter mal von Kampf die Rede sein. Zurecht, zumindest dann, wenn man ein bisschen Rumgeposte und Ärger mit rechten Trollen als „Kampf“ bezeichnen will.
Leider bekomme ich nicht alles mit. Weil sich zwischendrin das echte Leben in meiner Parallelwelt meldet. Die Preisverleihung ist gerade zu Ende. Die 8.Klasse hat den dritten Platz gemacht. Vor ihr nur zwei deutlich ältere, privat organisierte und teilweise semiprofessionelle Gruppen. Aber: Von den teilnehmenden Schulklassen war sie die beste.
Meine Frau schickt lauter begeisterte Emojis.
Die Kids jubilieren.
200 Euro gewonnen für die Klassenkasse! Dritter Platz in einem solchen Wettbewerb! Überhaupt: was gewonnen! Erfolg gehabt und Anerkennung bekommen!
Ich bekomme Fotos. Die Kids auf der Bühne, ein bisschen verlegen, aber glücklich. Vermutlich das erste Mal auf einer Bühne, die hier Bühne heißt und nicht Stage.
Glückwunsch, ihr Helden, denke ich mir! Niemand twittert das, niemand postet was darüber, es gibt keinen Hashtag dafür. Für mich ist es trotzdem das Schlüsselerlebnis der letzten Tage.
Ich gebe gerne zu: Ich war selten so berührt wie in diesem Moment. Schon klar, aus unserer Sicht läppische 200 Euro und ein 3. Platz in einem kleinen Kreativwettbewerb, was ist das schon? Noch dazu, wenn du auf einer Konferenz sitzt, die gerade mal eben die großen Gesellschaftsentwürfe baut, sich selbst ziemlich geil findet und deren Besucher zum allergrößten Teil vermutlich noch nie eine Hauptschule von innen gesehen haben, sie nie sehen werden und sich vermutlich auch nur einen feuchten Dreck dafür interessieren.
Ich habe übrigens meine Frau noch nie jammern gehört. Noch nie, kein einziges Mal. Das ist ihr Job sagt sie, keine große Sache.
Am Abend dann, ich kann noch nicht richtig schlafen, zappe ich mich durch das Fernsehprogramm. Bleibe kurz bei Maischberger hängen. Dort debattiert u.a. Peter Hahne mit Teresa Bücker darüber, ob man noch „Zigeunerschnitzel“ sagen darf (sie findet nicht, er schon). Und ich denke mir, dass meine Frau gerne diese Probleme hätte. Und dass Frau Maischberger für solche Debatten bestimmt bald wieder mal einen Fernsehpreis bekommt, weil dort gesellschaftlich relevante Dinge…
Meine Heldin der re:publica ist deshalb: Meine Frau! Ich habe vielen gerne zugehört, manche fand ich auch richtig gut. Echte, unfassbar große Hochachtung hatte ich: nur vor ihr.
Sie hat mehr Mumm in den Knochen als jeder, der da auf oben auf den Stages stand.
Sie tut mehr für diese Gesellschaft als jeder, der fordert, sie müsse besser werden.
Sie weiß mehr vom echten Leben als wir alle zusammen.
Sie würde sich nie im Leben auf eine Bühne stellen und dort erzählen, wie großartig sie ist und was sie alles leistet (sie weiß auch nicht, dass ich gerade diesen Text schreibe, wahrscheinlich gibt es nachher ein bisschen Ärger).
Vielleicht, liebe re:publica-Macher, ladet ihr sie trotzdem mal ein. Sie und ihre Klasse. Einfach so, ohne Stage und ohne Öffentlichkeit (und ohne Bundeswehr), nur mal so.
Zum Reden. Über das echte Leben.
Ein wunderbarer Text, der mich sehr berührt und auch meine Seele als langjährige Haupt- und Realschullehrerin streichelt. Ganz liebe Grüße und Glückwünsche an die Schüler und deine Frau. Ich freu mich ganz doll mit. Herzliche Grüße
Elke Noah
@klassenkrempel
Ja. Es gibt einen Unterschied zwischen Reden und Tun. Vielen Dank für den Bericht hier von den Mühen der Ebenen. Und meinen Gückwunsch an die Acht!
Dort das echte Leben, Hier eine Art Parallelwelt… Ich mag diesen Unterschied nicht. Auch ein Pörksen-Vortrag ist das echte Leben, genauso wie das Nachdenken darüber. Auf Malle in der Sonne liegen, die Oma im Krankenhaus besuchen, ein Meeting im Arbeitsministerium, seine Steuererklärung machen, Mülltonnen abholen oder ironisch auf English in Kreuzberg einen Hipster-Latte bestellen – gehört alles zum echten Leben.
Natürlich kann man das Eine wichtiger finden als das Andere. Aber dadurch wird das Andere aber nicht falsch.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn 🙂 Ein schöner Text.
Phänomenaler Text, und Glückwunsch an die Gattin!
Ein großartiger Text. Mein Lieblingssatz: „Ich habe übrigens meine Frau noch nie jammern gehört. Noch nie, kein einziges Mal. Das ist ihr Job sagt sie, keine große Sache.“ Ja, so sind echte Helden! Kein Mimimi.
???!
Oh, Emojis gehen nicht. Also: Daumen nach oben, Herz!
Vielen Dank für diese wunderbare Schilderung, die in meinem Kopf wieder so einiges ins rechte Licht gerückt und ein paar Vermutungen bestätigt hat. 1000 Glückwünsche an deine Frau und ihre Klasse. Ich freue mich riesig für sie!
Das „ohne Mimimi“ ist herrlich – als Beschreibung und als Lebenshaltung 🙂
Ich finde das ganz fantastisch und freue mich fürcdie Klasse, deren Familien und natürlich die Lehrerin. Ein Hauch Anerkennung – mehr braucht es oft nicht um das Selbstwertgefühl zu steigern und sich gleichwertig mit anderen zu fühlen. Herzlichen Glückwunsch von einem Journalistenpreisträger! ?
ein schöner Text und herzlichen Glückwunsch an die Frau.
Meine Frau meint immer, ich würde sie nur deswegen so toll finden, weil ich die Verliebten-Brille auf hätte. Falls Deine Frau auch so drauf ist, richte ihr bitte aus, dass auch ich ihre Arbeit und Erfolge ganz und gar großartig finde.
Falls sie nicht so drauf ist, dann bitte trotzdem ausrichten.
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Ein wirklich guter Text – danke dafür!
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Danke, dass du mir als vielleicht nicht sehr selbstverliebtem aber umso größerem Theoretiker mal wieder die Hand zur eigenen Nase geführt hast. Kleiner Lektüretipp für die anderen Teile der Bildungselite zum Selbsttest, wie schlimm es um einen steht: Guillaume Paoli – Die lange Nacht der Metamorphose.
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