Apple hat seinen Streamingdienst gestartet, Disney dürfte bald folgen, andere womöglich auch. Die Digitalisierung nimmt gerade die nächste Branche auseinander: das Fernsehen. Am Ende dürfte von dem Fernsehen, wie wir es kennen, nicht mehr viel übrigbleiben. Read More
Die Fernsehsender freuen sich gerade: Kürzere Tage, kalte Temperaturen, da schießen die Zuschauerzahlen noch mal in die Höhe – und dann ist ja auch bald noch Weihnachten. Hochsaison also im klassischen Free-TV. Und würde man TV-Manager heute nach der Zukunft ihrer Sender fragen, dann wäre die Antwort vermutlich einigermaßen euphorisch: Immer noch das meistgenutzte Medium, das Leitmedium. Was bitte schön soll passieren?
Die simple Antwort: Das haben die deutschen Tageszeitungen vor 20 Jahren auch gesagt. Den Sendern blüht jetzt dasselbe. Nämlich ein selbstverschuldeter Abstieg, weil man die Zeichen der Digitalisierungs-Zeit nicht verstanden hat und versucht, mit 50 Jahre alten Mitteln Programm zu machen.
Und damit ein Blick in und auf meinen neuen Fernseher. Nicht, weil er so toll ist, im Gegenteil: In dieser oder einer vergleichbaren Ausführung steht er inzwischen vermutlich in hunderttausenden deutschen Wohnzimmern.
Mein Fernseher hat irgendwo in seinen vielen Funktionen auch die für klassisches Free-TV, analog, wahlweise gebühren- oder werbefinanziert. Da laufen mittlerweile unzählig viele Programme. Die meisten davon habe ich noch nie gesehen. Die Chancen, dass sich das jemals ändern wird, sind minimal. Weil ich bisher keinen Grund gefunden habe, mir N3 oder RTL 2 und nicht mal mehr SAT 1 oder Pro 7 anschauen zu müssen.
Mehr On-Demand-Maschine als klassischer Fernseher
Das wiederum liegt daran, dass mein Fernseher inzwischen mehr Computer als Fernseher ist. Ein Computer, voll mit Apps. Mit Content, wie man neudeutsch so schön sagt. Er ist so, wie Inhalt im digitalen Zeitalter zu sein hat: Umfangreich, personalisiert, jederzeit abrufbar. Und meistens werbefrei.
Das gilt sogar für die Angebote der Fernsehsender, teilweise zumindest. ARD und ZDF nutze ich inzwischen hauptsächlich über die Mediatheken. Für das lineare Programm gibt es kaum mehr einen Anlass, wenn man von irgendwelchen Live-Events absieht. Auf meinem Fernseher sind mittlerweile drei klassische Streamingdienste, daneben noch drei Anbieter von Pay-TV-Programmen.
Die kosten alle Geld, klar. Sie sind zunehmend mehr aber auch Bestandteile von Bundles, bei denen Nicht-TV-Anbieter Kunden für ihre Angebote locken wollen: Amazon hat Prime Video, die Telekom Magenta Sport, Apple neuerdings Apple TV plus. Fernsehen und Video-Inhalte als Marketing-Tool, als Akquise-Maschinen für Versandhändler, Telkos oder Hardware-Hersteller.
Gegen die Streaming-Dienste sind Fernsehsender Zwerge
Das gibt dem Ganzen nicht einfach nur eine völlig neue Dimension – nämlich die, dass man keineswegs klassischer Programmanbieter sein muss, um Programm anzubieten (ich weiß, das klingt erstmal widersinnig). Es kommt dazu, dass diese neuen Player mit derart viel Geld in den Markt gehen, dass bisherige Sender plötzlich zu Zwergen mutieren: Amazon, Apple, Netflix, demnächst wohl auch Disney bringen soviel Geld und Macht in den Markt, da brechen für Sender in normalen Dimensionen harte Zeiten an.
Bei Disney kommt hinzu: Programme aus deren Produktion laufen ganz sicher erstmal im eigenen Streaming-Programm, bevor sie irgendwo andershin gehen. Gut möglich, dass Sender künftig die 13. Wiederholung von „Pretty Woman“ als Top-Film der Woche ankündigen müssen, während bei der digitalen Streaming-Konkurrenz nagelneue Blockbuster oder exklusive Eigenproduktionen anstehen.
Und schließlich: „Für Fernsehen zahlen“, das galt in Deutschland lange als Zeit als unmöglich. Am Pay-TV-Pionier „Premiere“ hat sich einer der größten deutschen Medienkonzerne aller Zeiten die Zähne ausgebissen. Nicht wenige Insider glauben, dass Leo Kirch seinen Laden ohne „Premiere“ wenigstens halbwegs hätte retten können. Eine aus heutiger Sicht interessante Debatte: Niemand findet es mehr verwunderlich, für Netflix oder Sky zahlen zu müssen. Damit rutschen, auch das paradox genug, die bisherigen Sender in die Rolle des Billig-Anbieters, bei dem man wahlweise gut abgehangenes Zeug oder billige Eigenproduktionen zu sehen bekommt. Und das auch noch unterbrochen durch Werbung, im schlimmsten Fall zur Primetime alle 20 Minuten.
Streaming wird zum Standard des „Fernsehens“
Einfach zusammengefast also heißt das: Je mehr das Streaming zur Standardmethode wird, desto weniger werden die Konzepte der Zeit, auf die das Fernsehen reagiert hat – Jahreszeiten, Zeitpläne, Zeitfenster – eine Rolle spielen. So viele der Arten, wie wir es gewohnt sind, Fernsehen zu erleben, sind Artefakte aus Technologie und Wirtschaft. Der September wurde zum neuen Jahr im Fernsehen, denn dann kamen die Menschen aus den Ferien zurück, die neue Saison begann. TV-Episoden entwickelten ihre Multi-Act-Struktur, um Platz für Werbespots zu schaffen. Die Wochenpläne wurden festgelegt, weil man alle auf einmal sehen musste (eine Praxis, auf die wir eines Tages als mittelalterliches Ritual zurückblicken können, wie das Brotbacken im Dorfgemeinschaftsofen).
Die Wirkung des Streamings auf die Kultur des Fernsehens ist fast Science-Fiction-ähnlich: Das Publikum existiert plötzlich zu jedem Zeitpunkt der Fernsehgeschichte und zu keinem bestimmten Zeitpunkt der Fernsehzeit. Die gesamte Strecke von „Breaking Bad“ ist so gut zugänglich wie die neue Saison von „4 Blocks“. Eine abgelaufene Serie kann so zeitgeistig werden wie eine brandneue. Nicht mal mehr auf ein Endgerät muss man sich festlegen. Ein Fernseher kann alles sein, was einen Bildschirm hat.
Die Idee ist gleich, die Mittel ändern sich
Natürlich: Völlig neu ist im Fernsehen der Gedanke nicht, den Menschen zu geben, was sie wollen. Was sich verändert, sind die Mittel, um es ihnen zu geben. Einerseits binden große Unternehmen ihre Streaming-Plattformen an ihre milliardenschweren Bestände an geistigem Eigentum, andererseits machen die granularen Viewer-Daten, die Streaming-Algorithmen zur Verfügung stehen, sie effizienter bei der Bedienung von Zuschauer-Geschmack. So effizient wie nie zuvor: Während sich TV-Sender immer noch am wenig aussagekräftigen Instrument der Quotenmessung entlanghangeln, wissen Netflix und Amazon präzise genau, wie sich der Zuschauer wirklich verhält. Ein entscheidender Vorsprung, nicht alleine in der Technik, sondern auch in der Programmplanung. Wer mehr über seine Zuschauer weiß, kann ihnen besseres Programm anbieten, so einfach ist das.
Aber sie sind auch der ultimative Ausdruck einer fragmentierten Kultur. Nicht nur, dass die Zuschauer nicht gleichzeitig Streaming-Shows sehen, sie wählen nicht nur verschiedene Shows aus den riesigen Bibliotheken, sondern auch die datenintensiven Algorithmen der Dienste bedienen sie jeweils mit unterschiedlichen Menüoptionen, sogar mit unterschiedlichen Titelbildschirmen für dieselben Shows. Millionen von uns sehen Netflix, ja, aber in gewisser Weise sehen wir alle Millionen von verschiedenen, maßgeschneiderten Netflixen. Streaming hat das Fernsehen gleichzeitig größer und kleiner denn je gemacht.
Also, liebe Fernsehleute, feiert euch selbst nochmal, freut euch über lange Verweildauern und hohe Zuschauerzahlen in der Herbst- und Weihnachtssaison. Es dürfte das letzte Mal sein.
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