Soll man sich wundern, wie sehr das soziale Netz und der Journalismus dort immer mehr zu einem Hort gequirlter Belanglosigkeiten und Geschäftigkeit vortäuschender Aufgeregtheit werden? Eher nicht. Wie das im Alltag aussieht, zeigen drei komplett wirre Tweets und die mediale Aufgeregtheit dazu. Read More
Der Fall: Ein gewisser Tom Radtke, 18, Schüler aus Hamburg. Listenkandidat auf dem völlig aussichtlosen Platz 20 der Linken in Hamburg für die kommende Bürgerschaftswahl. Bisher nirgends erkennbar in Erscheinung getreten. Inhaber eines Twitter-Accounts mit rund 150 Followern.
Irgendjemand muss Tom Radtke dann gesagt haben, dass man dieses Twitter unbedingt haben muss, wenn man was werden will in der Politik. Radtke beginnt also zu twittern. Und wie: Drei Tweets umfasst sein Account. Drei Tweets, bei deren Lektüre man mehrere Möglichkeiten ins Auge fasst:
Er war beim Verfassen hoffnungslos betrunken.
Er ist ein Troll, der die Linke möglichst schnell erledigen soll.
Er ist ein Bot.
Er hätte gerne ein bisschen Aufmerksamkeit.
Aber sehen Sie selbst:
Das mit der Aufmerksamkeit hat prima geklappt. In Windeseile sammeln sich Tausende Reaktionen auf seine Tweets, die meisten davon, vorsichtig formuliert, äußern sich eher kritisch. Luisa Neubauer meldet sich, Fridays for Future ebenfalls, alle betonen, diese komische Figur weder zu kennen noch sie zu unterstützen. Und der meistens sehr lustige Micky Beisenherz schreibt nur: Ach. Du. Scheiße.
Ob Radtke von all dem etwas mitbekommen hat, lässt sich schwer sagen. Ich habe keine Reaktion von ihm gefunden, gestehe allerdings auch, dass ich mich nicht durch die Tausende Reaktionen geackert habe. Twitter jedenfalls, dachte ich mir, ist ein eigenartiger Planet. Ein 150-Follower-Account schreibt kompletten Stuss und bekommt dafür Reaktionen in einer Zahl, die in einem grotesken Missverhältnis zu seinen Followern stehen.
Er selbst jedenfalls folgt nur fünf Accounts, darunter zweien von FFF. Und Luisa Neubauer.
Ihm selber folgen allerlei krude Accounts, niemand von Bedeutung, auch keine Politiker. Und neuerdings ein paar Journalisten, weil wirre Äußerungen von 18-jährigen inzwischen für echte Schlagzeilen gut sind.
Und auch hier gilt: Bitte sehen Sie selbst.
Focus, Welt, taz, MoPo, sogar die „Jerusalem Post“. Nicht schlecht für jemand, der bis vor kurzem noch völlig unbekannt war und so einen Quark schon öfter erzählt hat. Laut NDR war er schon 2019 auf einer Demo in Hamburg der Auffassung, nichts sei umweltschädlicher als Krieg (übrigens, trotz aller Distanzierungen heute, trat er da offiziell für FFF auf). Krieg in erster Linie als eine Umweltbelastung zu sehen, ist schon eine putzige Haltung.
Aber hey, auf der anderen Seite: Anders als man inzwischen landläufig glaubt, ist nicht jeder 17-jährige dazu auserkoren, die Welt zu retten. Man könnte auch sagen: Ein junger Mensch diesen Alters darf auch mal Stuss reden, auch wenn dieser Stuss schon schwer erträglich ist.
Aber so ticken Medien und soziale Netze inzwischen: Gestern ein alternder Komiker, heute ein noch nicht ganz ausgereifter „Politiker“, das Netz und die Medien, die immer aufgeregten Gleichmacher, kennen da keinen Unterschied. Das Thema „Relevanz“ geht zunehmend verloren. Wäre es anders, würden Journalisten nicht ausgiebig über den Unfug eines 18jährigen berichten und im Netz gäbe es auch Besseres zu tun.
Und so beschließen wir einmal mehr den Tag im Netz und in Medien leicht kopfschüttelnd, nicht ohne den freundlichen Hinweis, dass so viel Aufregung auf Dauer nicht gut für die Gesundheit ist. Und der schon so oft gedachten Idee, den Konsum von, ähem, „News“ und sozialen Netzwerken weiter deutlich zu reduzieren. Die Zeit ist zu schade für daueraufgeregte Nichtigkeiten. Wie allerdings Journalisten mit solchem Zeug die gebeutelte Branche retten wollen, darüber muss ich dann nochmal länger nachdenken.