Du betrachtest gerade Ein Plädoyer für einen ordentlichen (digitalen) Streit

Ein Plädoyer für einen ordentlichen (digitalen) Streit

Ist Elon Musk ein bisschen irre geworden oder muss das so? Wenn es aktuell um die Zustände bei Twitter geht, dann geht es immer auch um die Zustände von Elon Musk. Meistens schüttelt man entrüstet den Kopf und macht dann irgendwie weiter. Vermutlich hat das damit zu tun, dass Twitter ohnehin in den letzten Jahren zu einem Ort der Dauer-Erregung geworden ist. Falls Sie ein bisschen sensibel sein sollten, ist Twitter vermutlich nicht der Ort Ihrer Wahl.

Tatsächlich ist Twitter ein Panoptikum für alles, was in sozialen Netzwerken falsch laufen kann. Ja, es ist in seinen besten Momenten immer noch ein Ort der Kreativität, der interessanten Debatten. Und nach wie vor gibt es Events, die erst durch die Begleitung durch die Twitteria richtig schön werden. Die Fußball-WM und Twitter, die haben was gemeinsam: Beides sollte man gerade besser nicht schauen, aber in der Kombi ist das oft unschlagbar.

Wird also alles besser, wenn sich die Menschen einfach nur zu benehmen wüssten und einfachste Verhaltensregeln auch im digitalen Leben eingehalten werden? Oder wenn Sie womöglich sogar richtig kuschelig werden, freundlich, zuvorkommend und (wie man heute so schön sagt) achtsam? Wäre nett. Und ist leider eine Illusion. Zu besichtigen jeden Tag bei LinkedIn, der Kuschelhölle.

Diversity heißt nicht Gleichförmigkeit – im Gegenteil

Ja, LinkedIn. Ich vermute, dieses Netzwerk der permanent guten Laune, in dem es nur Gute(s) gibt, war die Blaupause für Wolf Lotter. Der Autor, durchaus ein streitbarer Mensch, hat im “Spiegel” unlängst ein Essay mit einem schönen Titel geschrieben: „Harmonie verblödet”. Die Quintessenz des Textes: Mit Nicken, Gutfinden und Zustimmen sorge man für gute Laune. Man löse nur dummerweise keine Probleme damit.

Bevor Sie jetzt aufschreien, einen bösen Tweet absetzen oder mich bei LinkedIn sofort rauswerfen: Der Friedhof der Kuscheltiere (LinkedIn) und das Zentralorgan der Dauer-Erregtheit (Twitter) haben ihre Verdienste. Die beiden Pole der digitalen Kultur zeigen nämlich beide, wie man es besser nicht macht. Man löst kaum ein Problem, indem man sich permanent anbrüllt. Kreativität entsteht nicht durch die Verkürzung auf 240 Zeichen und wenn jeder alles sagen darf, dann ist das keine Meinungsfreiheit.

Umgekehrt: Wenn sich alle toll finden, jeder dem anderen alles gönnt, wenn man sich hauptsächlich über Empathie und über die segensreiche Wirkung von Tränen in der Arbeit unterhält, dann entsteht daraus irgendwas hyggeliges. Das wiederum sollte man nicht mit Kreativität und Inspiration verwechseln. Hygge überlässt man besser den Landlustliebe-Zeitschriften.

LinkedIn ist, sorry, wenn ich das so offen sage: manchmal die Hölle. Twitter allerdings auch. Und beide zusammen sind ein Beleg für das, was der Münchner Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin unlängst als eine “Verengung des Meinungskorridors” bezeichnete. In beiden Netzwerken kann das schwierig werden mit den Meinungen abseits der jeweiligen Bubble. Bei Twitter kann jederzeit irgendein Shitstorm losbrechen, bei LinkedIn wird man mit moraltriefender Verachtung gestraft (was übrigens auch nicht angenehmer ist).

Irgendwas ist verloren gegangen in Sachen konstruktiver Streitkultur. Wenn die einen immer sofort losbrüllen und die anderen eingeschnappt oder in Tränen aufgelöst sind und beide eint, dass sie die schiere Existenz einer anderen Auffassung für eine Zumutung halten, dann wird es problematisch.

War es jemals schlimmer? Ich fürchte: nein. Bei Twitter muss man befürchten, dass Elon Musk gerade erst richtig anfängt, freizudrehen. Und LinkedIn? Jeder gefühlige Beitrag, den irgendeine KI auch schreiben könnte, findet Tausende Herzchen und Likes und man versichert sich gegenseitig, das Richtige zu tun und somit auch auf der richtigen Seite zu stehen. Dabei heißt doch die gerade in diesem Netzwerk so gehypte und dauerzitierte Diversity: Unterschiedlichkeit. Wenn man unter Diversity Harmonie versteht, dann läuft was verkehrt. Ganz davon abgesehen, dass Diversity inzwischen zum LinkedIn-tauglichen Buzzword geworden ist, wird genau der Aspekt der Unterschiedlichkeit gerne missverstanden.

Nein, Leute, ich mag es auch nicht, wenn sich Leute anpöbeln, wenn Shitstorms losgetreten werden und alles in allem eine Stimmung wie bei einer ordentlichen Kneipenschlägerei herrscht. Aber das digitale Gesäusel, das bringt uns auch nicht weiter. Das richtige Streiten müssen wir vermutlich erst wieder lernen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.