Sie erinnern sich noch das “Web 2.0”? Keine Sorge, wenn nicht, dann sind Sie noch beneidenswert jung. Dieses 2.0-Ding ist schon ein paar Tage her. Irgendwann kamen dann Leute, die ein Web 3.0 oder 4.0 ausgemacht haben wollten. Aber wie das so ist: Solche Wortspielereien funktionieren einmal und das war es dann auch. Jetzt aber beobachten wir, wie das Web 2.0 endgültig zu Ende geht: mit dem Ende von Twitter.
Um diesen Text mal mit einer richtigen Binse zu beginnen: Der Grat zwischen Genie und Wahnsinn ist ziemlich schmal. Bei Elon Musk habe ich mich lange gefragt, in welche Richtung es gehen wird. Inzwischen habe ich mich für eine dritte Möglichkeit entschieden: Es geht eindeutig in Richtung Blödsinn. Würde mir jemand all das, was Musk in den letzten Wochen von sich gegeben hat, quasi anonymisiert erzählen, ich würde darauf tippen, dass das ein Praktikant im Silicon Valley auf Speed verzapft hat. Twitter künftig “X” zu nennen und zu einer Art westliches “WeChat” umbauen zu wollen, das ist so viel Nonsens, dass ich das vermeintliche Genie darin nicht mal mehr in homöopathischen Dosen entdecken kann.
Die Macht und der Einfluss von WeChat in China haben es zum heiligen Gral für Tech-Unternehmen außerhalb des Landes gemacht. Allerdings ist es bisher noch keinem Unternehmen gelungen, ein vergleichbares Produkt zu entwickeln. Es gibt Super-Messaging-Apps wie WhatsApp, das in den meisten Ländern Europas und Lateinamerikas verbreitet ist, und LINE in Korea und Japan. Außerdem gibt es Social-Fintech-Apps wie Venmo in den USA und, was noch merkwürdiger ist, physische Geschäfte, die sich zu digitalen Banken entwickelt haben, Aber dank Chinas, sagen wir mal, einzigartiger soziopolitischer Landschaft und Internetvorschriften spielt WeChat immer noch in einer eigenen Liga.
Erstaunlich, wie komplett falsch Musk Twitter sieht
Aber wir sind hier ja nicht in China, oder?
Das hat Musk nicht davon abgehalten, darüber zu fantasieren, wie man Twitter in das WeChat jenseits der Großen Firewall verwandeln könnte. Man kann das auch Fantasieren über eine Art Internet-Weltherrschaft nennen. Bei vielen anderen würde man diesen Satz vermutlich als Nonsens abtun. Bei einem wie Musk sollte man sich da nicht so sicher sein. Sie wissen schon, Genie, Wahnsinn und die entsprechenden Grenzen.
Aus seiner Sicht also ist es nur konsequent, aus Twitter “X” zu machen, während der Rest des Internet-Planeten vermutlich aus dem Kopfschütteln nicht mehr rauskommt. Wie alles, was er mit der Plattform gemacht hat, seit er sie gekauft hat, war also auch das: ein komplettes Desaster.
Die unbestreitbare Dummheit der Umbenennung, der strategischen Ausrichtung und des Redesigns stellt uns immer wieder vor eine simple Frage: Warum und wofür das alles? Ich habe etliche Theorien darüber gelesen und gehört, keine hat mich wirklich überzeugt. Auch wenn ich zugebe, mir manchmal zu denken: Vielleicht steckt da soviel Genius dahinter, dass ich schlichtweg zu dumm bin, das zu begreifen, was weiß man schon.
Die einzige für mich vorstellbare Antwort auf die Frage, warum er Twitter in WeChat umwandelt: Womöglich kann sich Musk das Netz ohne Twitter nicht vorstellen, Oder, noch fataler, er denkt, Twitter sei das Netz und er habe somit nicht eine Plattform, sondern das Netz gekauft. Fantasien eines abgedrehten Milliardärs also. Jemand, der in das Weltall fliegt, wird doch wohl noch ein bisschen Netz beherrschen, oder?
Was aber passieren wird, entzieht sich Musks Vorstellungskraft. Dabei sind ein paar Dinge so simpel, dass man nicht mal Milliardär sein muss, um sie zu begreifen:
- Twitter hat einen Markenkern und ein bestimmtes Publikum. Die Stärken von Twitter waren schon immer genau diese Dinge: ein klarer Markenkern, ein Alleinstellungsmerkmal und eine eindeutige und (zumindest in vielen Ländern) hochwertige Zielgruppe. Die muss man an dieser Stelle nicht ausführlich beschreiben, nur so viel: Irgendjemand unter den Lesern hier, der glaubt, dass diese Zielgruppe ernsthaft Lebensmittel bei Twitter einkaufen will und daneben noch ein bisschen Banking betreibt? Eher im Gegenteil: Sollten die Allmachtsfantasien Realität werden, ist genau diese Zielgruppe die erste, die Reißaus nimmt.
- Twitter war so gut wie unangreifbar, als es sich auf Marke und Zielgruppe fokussierte. Ich würde sogar sagen: Niemand wäre in der Lage, Twitter ernsthaft anzugreifen, würde es das bleiben, was es ist. Altes Social-Media-Prinzip: Der Platzhirsch kann sich höchstens selbst erlegen, verdrängt wird er nicht. Twitter ist auf dem besten Weg dazu.
- Wenn der Platzhirsch schwächelt, sehen andere ihre Chance. Und sie werden sie nutzen.
Das Glück von Twitter bisher: Neben der Treue des angestammten Publikums kam dazu, dass es keine wirklich brauchbaren Alternativen gab. Zumal es noch nie funktioniert hat, wenn eine Plattform lediglich mit irgendwelchen technischen Gimmicks geworben hat. Es gehört mehr dazu, als bessere und schönere Technik anzubieten.
Twitter bekommt ein Ehrengrab gleich neben Google +
Wenn sich am Ende dann doch wieder nur all die bekannten Nasen treffen und das machen, was sie zuvor auch gemacht haben: Dafür lohnt sich die Mühe des Umzugs kaum. Es gibt nicht ein Beispiel dafür, dass eine solche Plattform-Alternative gewonnen hätte. Besuchen Sie hierzu gerne den Friedhof der Social-Media-Kuscheltiere, wo all die begraben liegen, die sich mal als “Killer von irgendwas” versucht haben. Wenn Sie schon da sind, besuchen Sie doch dann gleich auch das große Ehrengrab von Google +.
Es wird also kein “neues” Twitter geben. Und es ist noch nicht mal sicher, ob es jemals wieder einen reinen textbasierten Dienst dieser Größe geben wird.
Stattdessen kommen jetzt die anderen Elefanten. Die, die schon ein großes Publikum haben und jetzt einfach die Twitter-Funktionalität drandocken. Das klingt bestechend einfach: Man hat ohnehin schon unzählige Millionen an Usern, muss keine Audience mehr aufbauen und bietet einfach eine Zusatzfunktion. Nichts anderes machen Zuckerbergs Instagram mit “Threads” und TikTok mit der Einführung von Textnachrichten.
Was also bleibt, wie geht es weiter?
Möglicherweise muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass es künftig noch dieses Text-Dings in dieser Größe wie Twitter geben wird. Vorstellbar ist, dass sich das “X” auf ein paar mittelgroße Neo-Twitters verteilen wird. Dass das Schreiben kurzer Textbeiträge irgendwann mal Standard ist und dass man deswegen gar nicht mehr unbedingt nochmal auf einen eigenen Kanal wechseln muss.
Und Elon Musk? Wird weiter so lange die Abrissbirne schwingen, bis Twitter das sein wird, was heute MySpace ist: Eine Erinnerung an die Anfangszeiten von Social Media. Eine Plattform, die kaputt gegangen ist, weil sie erst aus der Zeit und dann in die Hände von jemandem gefallen ist, der nichts davon versteht.
Was wir ebenfalls sehen: Das Web 2.0, wie wir Ältere es vor allem noch kannten, ist Vergangenheit. Dieses neue Social-Web hat viel mehr mit Videos, mit Schnelligkeit, mit Flüchtigkeit zu tun. Textbeiträge zu schreiben, die man ggf. noch viele Jahre später wieder auffinden kann? Tempi passati. Insofern steht Twitter nicht nur für die Chuzpe eines Milliardärs. Sondern für das Ende einer Netz-Ära.
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