Bei Spotify haben sie gerade eben mal wieder eine neue Rubrik entwickelt: den personalisierten täglichen Podcast-Mix; eine Playliste mit Podcasts, die dir eigentlich gefallen müssten. So wie bei der Musik, nur eben mit Podcasts. Read More
Das wäre nicht weiter der Rede wert, würde es nicht sinnbildlich für den Stellenwert stehen, den Podcasts inzwischen haben. Für Unternehmen wie Spotify und iTunes, aber ebenso für mittelgroße Player wie Audible oder Deezer, spielen sie eine entscheidende strategische Rolle: Weg vom eigentlichen Kerngeschäft, hin zu Universal-Anbietern von Audio (früher auch bekannt als: Radio).
Was Podcast-Skeptiker gerne ins Feld führen: Von einem Massenphänomen seien Podcasts weit entfernt. Nüchtern, vulgo: In Zahlen betrachtet stimmt das. Nach den Ergebnissen der letzten Onlinestudie von ARD und ZDF bringen nutzen gerade mal 14 Prozent des Gesamtpublikums in Deutschland regelmäßig Podcasts bzw. „zeitversetzte Radiosendungen“ (auffällig aber auch hier: Bei den 14 bis 29jährigen ist der Anteil schon fast doppelt so hoch. Wenn also trotzdem drei Viertel der Deutschen nichts mit Podcasts am Hut haben – wozu dann dieses Gewese?
Die Entwicklung läuft ähnlich wie beim Bewegtbild
Die Entwicklung bei Podcasts steht immer noch am Anfang, wir sind gerade erst in einer Phase der Professionalisierung. Unbestritten ebenfalls: Die Monetarisierung von Podcasts ist schwierig. Trotzdem lässt sich schon jetzt ein ähnlicher Trend erkennen wie beim Thema Bewegtbild: Weg von der linearen Nutzung, hin zu On-Demand-Inhalten. Weg von General Interest, rein in die Nische. Weg vom Allgemeinen, hin zur Personalisierung. Das bringt auch eine Fragmentierung des Marktes mit sich, das Long-Tail-Phänomen haben wir schon jetzt auch bei Podcasts: Ein paar laufen richtig gut, dahinter kommen dann ganz, ganz viele, die irgendwo bei sieben Hörern monatlich absaufen.
Sicher ist: Zumindest im deutschsprachigen Raum lassen sich Podcasts bisher kaum monetarisieren. Für die meisten Anbieter, ob jetzt Redaktionen oder Unternehmen, ist das auch nicht der entscheidende Punkt. Momentan wichtiger ist für sie, mittelfristig neue Zielgruppen zu erreichen. Zumal ein Investment in das Thema Audio auch eine Positionierung für die Zukunft ist: Audio hat vermutlich enorm viel Wachstumspotenzial. Voice im Auto oder zu Hause, Stichwort Smartspeaker, wenn das alles so kommt, wie man es derzeit erwarten darf, dann schaden eine Expertise und eine eigene Strategie für das Thema Audio auf keinen Fall. (Ein guter Text zu Thema Audio-Strategie findet sich übrigens hier.)
Christian Bollert, Geschäftsführer detektor fm, über die Entwicklungen beim Thema Podcast.
Podcasts sind aktuell für Publisher eher Mittel zum Zweck: User an sich binden, Markenbekanntheit steigern, zusätzliche Ausspielwege für Inhalte nutzen.
Für Journalisten jeglicher Couleur sollten Podcasts eigentlich eine paradiesische neue Möglichkeit sein. Sogar dann, wenn man unterstellt, dass der Weg zum Massenmarkt doch noch etwas länger ist. Das vor allem aus zwei Gründen.
Erstens: Podcasts sind non-linear, vor allem auf mobilen Plattformen (Smartphone) ideal zu nutzen und technisch wenig aufwendig, zumindest im Vertrieb. Damit sind sie alles das, was speziell für ein jüngeres, digitales Publikum relevant ist.
Zweitens: Podcasts bieten jede erdenkliche inhaltliche Freiheit. Sie können zwei, zwanzig oder zweihundert Minuten lang sein. Für jedes Format, für jede Länge finden sich erfolgreiche Beispiele; die Kollegen der „Zeit“ beispielsweise kokettieren bei ihrem „Alles gesagt“-Podcast förmlich mit solchen monströsen Längen wie sechs Stunden. Für Journalisten ein echter Traum: Endlich mal mehr an Inhalt als an Format denken!
Ein Paradies für Journalisten
Hintergrund, Analyse, Unterhaltung, Meinung, all die Sachen, die in konventionellen, linearen Produkten so schwer unterzubringen sind, haben hier ihren Platz. Und sind das nicht genau die Dinge, die den Journalismus erst zu dem machen, was er sein sollte? Das schiere Vermelden von Nachrichten ist es in Zeiten des schieren Informations-Overloads sicher nicht mehr. Sie sehen, ich wundere mich gerade, warum sich nicht noch viel mehr Journalisten mit Begeisterung auf das Thema Podcast stürzen.
Ich weiß nicht, ob ich es Prognose oder nur stille Hoffnung nennen soll – aber 2020 könnte das Jahr werden, in dem Podcasts endgültig die Nische verlassen. Es wäre jedenfalls kein Fehler, darauf vorbereitet zu sein.
In eigener Sache: Mein Podcast „Digitale Viertelstunde“ läuft ab sofort bei den Kollegen von W&V. Die erste Folge unter dem neuen Label ist ab Freitag, 20.12., zu hören.
In der Theorie weiß ich schon länger, was mich an sozialen Netzwerken stört. In der Praxis erst seit dem vergangenen Wochenende. Mit der Konsequenz, dass ich mich besser nicht mehr an Orten aufhalte, die schlechte Laune machen. Read More
Ich betone das gerne immer wieder: Ich bin der mutmaßlich toleranteste Mensch auf der Welt. Niemand muss meiner Meinung sein. Jeder darf glauben, was er will. Die Grenze ist das Grundgesetz. Ich halte ganz und gar nichts davon, Meinungen regulieren zu wollen, wie das ein bekannter Kolumnist unlängst gefordert hat. Kurz gesagt: Man hätte meinen Beitrag gut oder schlecht finden können. Ganz nach Gusto. Man kann ihn sogar kommentieren und man kann der Auffassung sein, dass ich unrecht habe.
Stattdessen passierte in einer Miniatur-Ausgabe das, was gerne im sozialen Netz passiert: Die ganze Geschichte eskalierte ein bisschen. Menschen, die ich gar nicht oder kaum kenne, bezeichneten mich plötzlich als dummen, alten, weißen Mann. Damit kann ich leben, vor allem, wenn die Kritik von alten, weißen Männern kommt. Es hat mich niemand wirklich beleidigt. Gemessen an dem, was sonst im Netz so passiert: Pillepalle.
Trotzdem, bei dieser Sache habe ich begriffen, warum ich soziale Medien immer weniger nutze: Die „Debatten“ sind gerne hart am Rand. Man muss permanent damit rechnen, dass irgendjemand beginnt loszubrüllen. Und dass der Blick aufs Wesentliche, auch für mich selbst, verloren geht. Über den Klimagipfel in Madrid wird kaum gesprochen, stattdessen debattieren wir über eine Zugfahrt von Greta Thunberg in einem deutschen ICE. Das ist so entlarvend wie deprimierend zugleich.
Zumal solche Debatten schnell etwas persönliches, aggressives, autoritäres bekommen. Vor allem, wenn du alt, weiß, männlich bist. Dann dauert es nicht lange und diese Totschlagkeule wird geschwungen, zumindest vom neuen deutschen linken Spießertum, das ich übriges als genauso unangenehm empfinde wie das neue deutsche rechte Spießertum. Einer der Kommentatoren beispielsweise meinte, es sei erstaunlich, welche Reflexe Greta Thunberg bei alten Männern auslöse. Lustig: Wir haben zuhause auch über das Thema gesprochen, Frau und Tochter und ich. Wir waren weitgehend der gleichen Meinung. Meine Tochter ist im Greta-Alter. Und nun? Dürfen die Greta kritisieren und ich nicht?
Natürlich kenne ich auch die Mechanismen, ich weiß, warum sich an sich friedliebende Menschen im Schutze des Netzes plötzlich in aggressive Kotzbrocken verwandeln. Darüber ist ausreichend viel geschrieben worden, ich könnte nichts Erhellendes mehr dazu beitragen. Aber erstaunt bin ich trotzdem immer wieder. Zumal ich mich, frei nach Habeck, dabei ertappe, bei Facebook oder Twitter schneller mal einen Ton anzuschlagen, der nicht so ganz zu mir passt.
Ich muss mich dann immer zurücknehmen, indem ich mir selbst ein Übernacht-Social-Media-Verbot auferlege. Das war eine der wirklich fürs ganze Leben brauchbaren Dinge, die ich bei der Bundeswehr gelernt habe. Jeder durfte sich dort über alles und jeden formal beschweren. Sogar der Schütze über den General. Einzige Bedingung: Zwischen Vorfall und Beschwerde muss mindestens eine Nacht liegen. Hat mir früher nicht ganz eingeleuchtet, halte ich heute für sehr weise. Weil ich es selbst merke: Wenn ich eine Nacht darüber geschlafen habe, kommen mir viele Social-Media-Debatten ziemlich kleingeistig und albern vor. Ich beziehe mich in diese Attribute ausdrücklich mit ein.
Debatten laufen, das ist das grundsätzliche Problem der sozialen Netzwerke, immer mehr entlang von schwarz-weiß Schemata. Kritik an Greta? Dann bist du auch gegen den Klimaschutz und vermutlich AfD-Sympathisant. Skeptische Anmerkungen zu Greta, das ist wie Welpen aussetzen oder Bambi töten. Und wenn es ganz dumm läuft, bekommst du dafür auch noch Applaus aus einer Ecke, aus der du ihn ganz sicher nicht haben willst.
Davon abgesehen bleibt in solchen Debatten kaum mehr Zeit für die vielen Aspekte, die solche Geschichten nun mal haben. Und für Zwischentöne schon gar nicht mehr. Ich fand die Reaktion der Bahn auch nicht sonderlich schlau. Und ich finde, dass die arme Greta zu einer Projektionsfläche für Dinge gemacht wird, die sie gar nicht erfüllen kann. Davon abgesehen, dass ich weiß, wie Hypes und übermenschliche Erwartungshaltungen enden: Irgendwann erwischt sie mal jemand mit einem Burger bei McDonalds und dem darauf folgenden Gewitter des linken Spießertums möchte man lieber nicht ausgesetzt sein.
Das alles zerschellt an einem so banalen und nichtigen Thema wie einer Zugfahrt und einem Foto bei Instagram.
Das sind sinnlose Debatten, es ist Zeitverschwendung, es macht schlechte Laune.
Weswegen ich jetzt nicht den Habeck mache. Aber ich verordne mir selbst Social-Media-Zurückhaltung bei solchen Dingen. Ich poste gerne mal wieder was, wenn die Straubing Tigers Deutscher Meister werden, wenn 1860 in die Bundesliga zurückkommt oder wenn ich in Urlaub bin. Berufliche Sachen wie Links auf Texte oder sowas: In Gruppen oder bei LinkedIn. Ansonsten halte ich in sozialen Netzwerken künftig die Klappe. Schon alleine deswegen, weil ich ahne, dass ich einigen damit einen echten Gefallen tue.
Der Audio-Boom geht immer weiter, Print leidet – und Personalisierung wird zum echten Zukunfts-Thema. Hier kommen die komplett subjektiv zusammengestellten Medien-Trends für das Jahr 2020 (einer muss ja den Anfang machen) Read More
Trend 1: Der Audio- und Voice-Boom erreicht ungeahnte Ausmaße
Alles ist Audio. (Foto:Pixabay)
Bei Spotify bekommt man ab demnächst personalisierte Podcasts. Das ist eine ganz simple Geschichte, weil sie genauso funktioniert wie die Personalisierung bei Musik. Eine sehr nahe liegende Idee also.
Und während ich gerade die Pressemitteilung dazu lese, kommt gleich die nächste dieser Mitteilungen ins Haus geflattert. Spotify veröffentlicht einen True Crime-Podcast. Keine große Sache, das. Passt nur gerade prima ins Bild, gemessen an all den anderen Dingen, die Spotify in diesem Jahr zum Thema Podcasts gemacht hat. (Beispielsweise das und das und das und auch das).
Müsste man es kurz zusammenfassen, man würde sagen: Spotify setzt neben der Musik auf Podcasts als wichtigstes Standbein.
Das ist ebenso simpel wie dann doch wieder verblüffend. Dass Audio eine große Sache werden würde, haben ein paar Leute schon vor längerer Zeit geahnt. Die Wucht und das Tempo der Entwicklung sind trotzdem überraschend.
Ist das Ende des Booms schon erreicht? Noch lange nicht. 2020 dürfte das Jahr werden, in dem die Party erst richtig losgeht. Nicht nur mit Podcasts. Sondern mit allem, was im weitesten Sinne mit dem Thema Voice zu tun hat.
Das wird sich auch finanziell bemerkbar machen. Studien zufolge soll das Budget für Podcast im kommenden Jahr um über 60 Prozent weltweit angehoben werden. (Nebenher bemerkt, Print wird mal wieder der Leidtragende in dieser Entwicklung sein, dazu aber gleich noch mehr). Ob nun exakt dieses in der Studie prognostizierte Wachstum herauskommen wird, sei dahingestellt. Sicher ist dennoch: Der Podcast-Boom geht ungebremst weiter. Eine Audio-Strategie zu haben, wird für Medien wie Unternehmen so wichtig sein, wie es vor 15 Jahren eine rudimentäre Online-Strategie war. Audio und Voice verändern gerade radikal unsere Gewohnheiten im Netz. Man denke nur an die Abermillionen Smartspeaker, die inzwischen verkauft sind. Alleine dadurch gewinnt der Einsatz von Voice eine ganz andere, höhere Bedeutung. Informationen on demand, mit der Summe abgerufen, als Audio präsentiert – das wird mittelfristig mindestens so wichtig wie unsere heutige Idee, Inhalte mit dem Tippen auf der Tatstatur abzurufen und sie dann auf einem Display zu lesen.
Höchste Zeit, darauf zu reagieren (über die verpassten Audio-Chancen habe ich in diesem Jahr schon mal einen längeren Beitrag gemacht, deswegen verzichte ich hier auf nähere Erläuterungen zu diesem Thema).
Trend 2: Print leidet weiter – und stärker denn je
Leidtragende, mal wieder: Zeitungen. (Foto: Unsplash)
Und mal wieder lauten Fazit des beinahe vergangenen und Ausblick auf das neue Jahr wie so oft in den letzten Jahren: Print, vor allem die (regionalen) Tageszeitungen haben ihre Chancen weitgehend verpasst, die Luft wird noch dünner. Auch darüber hatte ich geschrieben, weswegen hier ebenfalls gilt: Details können Sie gerne hier nachlesen.
Der verlinkte Text ist jetzt ziemlich genau zwei Jahre alt. Es erstaunt mich, wie aktuell er immer noch ist. Und wie wenig sich seitdem geändert hat. Im Groben lassen sich drei Trends für den Umgang mit der Digitalisierung erkennen:
Raus aus dem analogen Print-Geschäft, radikaler Wandel zu einem wie auch immer ausgerichteten Digital-Konzern. Springer ist das beste Beispiel dafür, DuMont würde ebenfalls gerne raus aus dem klassischen Zeitungs-Geschäft.
Zukaufen, fusionieren, zentralisieren. Der Große frisst den Kleinen, das gilt vor allem für die regionalen Zeitungen.
Augen zu und durch. Eine Methode, die immer noch von vielen praktiziert wird. Verblüffend viele regionale Blätter halten eine Facebook-Seite und eine mobile Version ihrer Webseite bereits für eine Digital-Strategie. Das sind aus meiner Sicht auch die Kandidaten, von denen wir uns in den kommenden Jahren zunehmend verabschieden werden: mittelgroß, mittelmäßig, kein Konzept – und tschüss. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Wer einen radikalen Wandel 15 Jahre konsequent ignoriert, ist nicht überlebensfähig, in keiner Branche übrigens.
Wenn man von Nischen und den berühmten Ausnahmen absieht: Print hat sich überholt, die regionale Tageszeitung bisheriger Form auch. Es grenzt an ein Wunder, dass man das im Jahr 2019/20 immer noch schreiben muss.
Trend 3: Preise sinken, Flat und Flexi boomt
Noch mal ein Trend, der im erweiterten Sinn mit Print und Tageszeitung zu tun hat: Die hochpreisigen und unflexiblen Zeiten gehen zu Ende. Gerade hat die SZ ein digitales Einsteiger-Abo für 9,90 lanciert. Auch die „Berliner Zeitung“, in den letzten Wochen aus anderen Gründen ins Gerede gekommen, ist diesen Schritt jetzt gegangen.
Das ist nur konsequent und vernünftig, amerikanische Zeitungen beispielsweise machen das schon seit geraumer Zeit, nicht ganz unerfolgreich übrigens. Nicht nur die großen, internationalen Blätter, sondern auch regionale Zeitungen wie der „Miami Herald“ haben sich schon lange auf diesem Niveau eingependelt.
Deutsche Tageszeitungen dagegen sind immer noch ein bisschen wie das deutsche Netz: vergleichsweise teuer, ohne dafür auch so hochwertig zu sein, wie die Preise es suggerieren würden.
Für diesen 10-Euro-Einstiegspreis spricht, dass er inzwischen zu den Dingen gehört, die im Netz als gelernt gelten dürfen. Netflix, Audible, die US-Blätter: Überall hat sich das als ein Einstiegs-Level etabliert. 10 Euro für ein digitales Angebot, da leistet man sich dann vielleicht auch mal zwei oder drei. Die immer noch existenten 50-Euro-Abos einiger regionaler Zeitungen sind dagegen einer alles-oder-nichts-Strategie geschuldet. Wer so viel Geld für eine einzige Zeitung haben will, muss erstens sehr überzeugt von sich sein und zweitens darauf setzen, dass es keine echte Konkurrenz gibt. Wie schlau diese Idee im digitalen Zeitalter ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Angesichts der zunehmend aufdringlicher werdenden Marketing-Aktionen diverser Heimatzeitungen vermute ich aber, dass die Idee nur mittelgut ist.
Flexibel und flat: Das müssen die Preismodelle der Zukunft sein. Ein Abo, bitte sehr, das kann doch sehr viel mehr sein als ein Zwei-Jahres-Vertrag mit Kaffeemaschine als Prämie. Die Erkenntnis setzt sich allmählich auch in deutschen Medienhäusern durch: Das Angebot muss zum Kunden passen, nicht umgekehrt. Und damit kommen wir dann auch zu Trend Nummer 4.
Trend Nummer 4: Noch nie war der User so wichtig
Personalisierung heißt für viele bisher immer noch: Der User kann sich per Checkbox ein paar Sachen zusammenstellen. Das war 2001 mal eine spannende Idee. Heute darf man sowas aber beim besten Willen nicht mehr Personalisierung nennen. Unternehmen wie Amazon oder auch die New York Times zeigen hingegen, wie enorm wichtig es ist, seinen User gut zu kennen.Bei allen berechtigten Debatten über Filterblasen: Es ist unsinnig, zu glauben, dass Journalisten im Jahr 2020 das eine Produkt bauen könnten, das allen Usern, ihren Interessen und Vorlieben gleichermaßen gerecht wird (auch das übrigens ein Argument, das gegen die althergebrachte Tageszeitung spricht).
Was will der Leser (Hörer/Zuschauer)? Die Frage haben sich Generationen von Journalisten gestellt. Noch nie wäre es so einfach gewesen wie heute, diese Frage wenigstens halbwegs zu beantworten. Anbieter wie Netflix oder Spotify sind sich dessen bewusst. Ihr gezielter Einsatz von Daten und Algorithmen ist ein Teil der Erklärung für ihren Erfolg. Und auch die „New York Times“, immer noch Maß aller Dinge, wenn es um digitalen Journalismus geht, hat sich schon lange davon verabschiedet, allen Usern auf der Startseite das Gleiche vorzusetzen. Den Leuten zu geben, was sie wollen, ist keine ganz neue Erkenntnis, das versuchen Medien schon seit Anbeginn der Tage. Durch die Digitalisierung hat diese Idee aber noch mal an Relevanz gewonnen. Erstaunlich, wie wenig man in Deutschland davon Gebrauch macht. Ich stelle mir manchmal vor, dass es in Redaktionen immer noch gestrenge Herren gibt, die mit einem „Der Leser will das nicht“ alle Einwände zur Seite schieben, obwohl man es ja unter Umständen schon viel besser wissen könnte.
Trend Nummer 5: Der Omni-Channel
Und schließlich noch mal die famose „New York Times“ zum Schluss: Für deren Journalisten, so erzählte Verleger Sulzberger unlängst, sei es mittlerweile wichtiger, im Podcast „The Daily“ vorzukommen als auf der Seite 1 der gedruckten Zeitung. Kein Wunder, der Podcast hat in diesem Jahr die Marke von einer Milliarde Downloads geknackt (siehe dazu auch wieder: Trend Nummer 1, Podcasts und Audio).
Kurz gesagt: Nach all dem Gerede über Multimedia, Crossmedia, Transmedia bleibt 2020 die simple Erkenntnis, dass jede Form von Kommunikation und Medien potenziell auf beliebig vielen Kanälen stattfinden kann.
Solche Omni-Channel-Marken definieren sich über ihre Inhalte, nicht ihre Vertriebswege. Das wird zu einer riesigen Herausforderung. Die Ansprüche an Redaktionen, Inhalte und auch Technik steigen rasant an, wenn man das vernünftig machen will. Aus ökonomischer Sicht bedeutet das vorläufig: Hohe Investitionen, geringere Margen, eine lange Phase permanenter Entwicklung.
Ich bin mir nicht sicher, ob dazu alle in der Lage oder auch willens sind. Da werden einige auf der Strecke bleiben, so viel lässt sich sagen (siehe dazu: Trend Nummer 2).
Zusammengefasst: Viel Neues, manche Konsolidierung, einige Abschiede – willkommen Medienjahr 2020.
Apple hat seinen Streamingdienst gestartet, Disney dürfte bald folgen, andere womöglich auch. Die Digitalisierung nimmt gerade die nächste Branche auseinander: das Fernsehen. Am Ende dürfte von dem Fernsehen, wie wir es kennen, nicht mehr viel übrigbleiben. Read More
Die Fernsehsender freuen sich gerade: Kürzere Tage, kalte Temperaturen, da schießen die Zuschauerzahlen noch mal in die Höhe – und dann ist ja auch bald noch Weihnachten. Hochsaison also im klassischen Free-TV. Und würde man TV-Manager heute nach der Zukunft ihrer Sender fragen, dann wäre die Antwort vermutlich einigermaßen euphorisch: Immer noch das meistgenutzte Medium, das Leitmedium. Was bitte schön soll passieren?
Die simple Antwort: Das haben die deutschen Tageszeitungen vor 20 Jahren auch gesagt. Den Sendern blüht jetzt dasselbe. Nämlich ein selbstverschuldeter Abstieg, weil man die Zeichen der Digitalisierungs-Zeit nicht verstanden hat und versucht, mit 50 Jahre alten Mitteln Programm zu machen.
Und damit ein Blick in und auf meinen neuen Fernseher. Nicht, weil er so toll ist, im Gegenteil: In dieser oder einer vergleichbaren Ausführung steht er inzwischen vermutlich in hunderttausenden deutschen Wohnzimmern.
Fernseher, ein Abspielgeräte für alles Mögliche. (Foto: Pixabay, Mohamed Hasan)
Mein Fernseher hat irgendwo in seinen vielen Funktionen auch die für klassisches Free-TV, analog, wahlweise gebühren- oder werbefinanziert. Da laufen mittlerweile unzählig viele Programme. Die meisten davon habe ich noch nie gesehen. Die Chancen, dass sich das jemals ändern wird, sind minimal. Weil ich bisher keinen Grund gefunden habe, mir N3 oder RTL 2 und nicht mal mehr SAT 1 oder Pro 7 anschauen zu müssen.
Mehr On-Demand-Maschine als klassischer Fernseher
Das wiederum liegt daran, dass mein Fernseher inzwischen mehr Computer als Fernseher ist. Ein Computer, voll mit Apps. Mit Content, wie man neudeutsch so schön sagt. Er ist so, wie Inhalt im digitalen Zeitalter zu sein hat: Umfangreich, personalisiert, jederzeit abrufbar. Und meistens werbefrei.
Das gilt sogar für die Angebote der Fernsehsender, teilweise zumindest. ARD und ZDF nutze ich inzwischen hauptsächlich über die Mediatheken. Für das lineare Programm gibt es kaum mehr einen Anlass, wenn man von irgendwelchen Live-Events absieht. Auf meinem Fernseher sind mittlerweile drei klassische Streamingdienste, daneben noch drei Anbieter von Pay-TV-Programmen.
Die kosten alle Geld, klar. Sie sind zunehmend mehr aber auch Bestandteile von Bundles, bei denen Nicht-TV-Anbieter Kunden für ihre Angebote locken wollen: Amazon hat Prime Video, die Telekom Magenta Sport, Apple neuerdings Apple TV plus. Fernsehen und Video-Inhalte als Marketing-Tool, als Akquise-Maschinen für Versandhändler, Telkos oder Hardware-Hersteller.
Gegen die Streaming-Dienste sind Fernsehsender Zwerge
Das gibt dem Ganzen nicht einfach nur eine völlig neue Dimension – nämlich die, dass man keineswegs klassischer Programmanbieter sein muss, um Programm anzubieten (ich weiß, das klingt erstmal widersinnig). Es kommt dazu, dass diese neuen Player mit derart viel Geld in den Markt gehen, dass bisherige Sender plötzlich zu Zwergen mutieren: Amazon, Apple, Netflix, demnächst wohl auch Disney bringen soviel Geld und Macht in den Markt, da brechen für Sender in normalen Dimensionen harte Zeiten an.
Bei Disney kommt hinzu: Programme aus deren Produktion laufen ganz sicher erstmal im eigenen Streaming-Programm, bevor sie irgendwo andershin gehen. Gut möglich, dass Sender künftig die 13. Wiederholung von „Pretty Woman“ als Top-Film der Woche ankündigen müssen, während bei der digitalen Streaming-Konkurrenz nagelneue Blockbuster oder exklusive Eigenproduktionen anstehen.
Und schließlich: „Für Fernsehen zahlen“, das galt in Deutschland lange als Zeit als unmöglich. Am Pay-TV-Pionier „Premiere“ hat sich einer der größten deutschen Medienkonzerne aller Zeiten die Zähne ausgebissen. Nicht wenige Insider glauben, dass Leo Kirch seinen Laden ohne „Premiere“ wenigstens halbwegs hätte retten können. Eine aus heutiger Sicht interessante Debatte: Niemand findet es mehr verwunderlich, für Netflix oder Sky zahlen zu müssen. Damit rutschen, auch das paradox genug, die bisherigen Sender in die Rolle des Billig-Anbieters, bei dem man wahlweise gut abgehangenes Zeug oder billige Eigenproduktionen zu sehen bekommt. Und das auch noch unterbrochen durch Werbung, im schlimmsten Fall zur Primetime alle 20 Minuten.
Streaming wird zum Standard des „Fernsehens“
Einfach zusammengefast also heißt das: Je mehr das Streaming zur Standardmethode wird, desto weniger werden die Konzepte der Zeit, auf die das Fernsehen reagiert hat – Jahreszeiten, Zeitpläne, Zeitfenster – eine Rolle spielen. So viele der Arten, wie wir es gewohnt sind, Fernsehen zu erleben, sind Artefakte aus Technologie und Wirtschaft. Der September wurde zum neuen Jahr im Fernsehen, denn dann kamen die Menschen aus den Ferien zurück, die neue Saison begann. TV-Episoden entwickelten ihre Multi-Act-Struktur, um Platz für Werbespots zu schaffen. Die Wochenpläne wurden festgelegt, weil man alle auf einmal sehen musste (eine Praxis, auf die wir eines Tages als mittelalterliches Ritual zurückblicken können, wie das Brotbacken im Dorfgemeinschaftsofen).
Die Wirkung des Streamings auf die Kultur des Fernsehens ist fast Science-Fiction-ähnlich: Das Publikum existiert plötzlich zu jedem Zeitpunkt der Fernsehgeschichte und zu keinem bestimmten Zeitpunkt der Fernsehzeit. Die gesamte Strecke von „Breaking Bad“ ist so gut zugänglich wie die neue Saison von „4 Blocks“. Eine abgelaufene Serie kann so zeitgeistig werden wie eine brandneue. Nicht mal mehr auf ein Endgerät muss man sich festlegen. Ein Fernseher kann alles sein, was einen Bildschirm hat.
Die Idee ist gleich, die Mittel ändern sich
Natürlich: Völlig neu ist im Fernsehen der Gedanke nicht, den Menschen zu geben, was sie wollen. Was sich verändert, sind die Mittel, um es ihnen zu geben. Einerseits binden große Unternehmen ihre Streaming-Plattformen an ihre milliardenschweren Bestände an geistigem Eigentum, andererseits machen die granularen Viewer-Daten, die Streaming-Algorithmen zur Verfügung stehen, sie effizienter bei der Bedienung von Zuschauer-Geschmack. So effizient wie nie zuvor: Während sich TV-Sender immer noch am wenig aussagekräftigen Instrument der Quotenmessung entlanghangeln, wissen Netflix und Amazon präzise genau, wie sich der Zuschauer wirklich verhält. Ein entscheidender Vorsprung, nicht alleine in der Technik, sondern auch in der Programmplanung. Wer mehr über seine Zuschauer weiß, kann ihnen besseres Programm anbieten, so einfach ist das.
Aber sie sind auch der ultimative Ausdruck einer fragmentierten Kultur. Nicht nur, dass die Zuschauer nicht gleichzeitig Streaming-Shows sehen, sie wählen nicht nur verschiedene Shows aus den riesigen Bibliotheken, sondern auch die datenintensiven Algorithmen der Dienste bedienen sie jeweils mit unterschiedlichen Menüoptionen, sogar mit unterschiedlichen Titelbildschirmen für dieselben Shows. Millionen von uns sehen Netflix, ja, aber in gewisser Weise sehen wir alle Millionen von verschiedenen, maßgeschneiderten Netflixen. Streaming hat das Fernsehen gleichzeitig größer und kleiner denn je gemacht.
Also, liebe Fernsehleute, feiert euch selbst nochmal, freut euch über lange Verweildauern und hohe Zuschauerzahlen in der Herbst- und Weihnachtssaison. Es dürfte das letzte Mal sein.
Bei Spotify gibt es eine neue Playlist. Die aber hat es in sich. Weil sie mittelfristig das klassische Formatradio in arge Bedrängnis bringen wird. Read More
Radiosender bringen mich regelmäßig zur Verzweiflung. Weil ich das Medium aus alter Verbundenheit eigentlich sehr mag, die täglichen Programme aber wahlweise unterirdisch dämlich sind (Formatradios!) oder als reine Wortprogramme für das Nebenbei-Laufen ungeeignet sind. Letzteres Problem habe ich durch intensiven Podcast-Konsum in den Griff bekommen. Ersteres löse ich durch Abschalten. Formatradios, egal welcher Ausrichtung, sind die Seuche.
Immer, wenn ich mich darüber mit Freunden und Kollegen unterhalten habe, fragten die mich irgendwann, wie ich es denn gerne hätte. Und ich habe regelmäßig gesagt: Ganz einfach, ich möchte ein Programm, das meine Musik spielt und mich regelmäßig zumindest mit dem Wichtigsten auf dem Laufenden hält. Ich brauche nicht alle zehn Minuten einen mittelinteressanten Wortbeitrag und Gewinnspiele und durchformatierte Moderatoren schon gleich gar nicht.
So einfach kann das sein. Und so simpel hat Spotify das jetzt umgesetzt, in Form einer schlichten, personalisierten Playlist. Sie basiert auf dem Musik-Algorithmus, der das spielt, was der User (vermutlich) gerne hört. Dazwischen kommen: Nachrichten und Wortbeiträge. Das ist erkennbar ein Angriff aufs Formatradio, womöglich muss man sogar konzedieren, dass Spotify mal eben mit „Daily Drive“ das Radio neu erfunden hat.
Das lineare (Format-)Radio sieht jedenfalls dagegen plötzlich ziemlich als aus. Auch wenn Spotify bis dato noch nicht moderieren kann, muss man dagegenhalten: Gerade diesen Vorteil, dass Moderatoren einer Sendung ihr eigenes Flair geben können, verspielen viele Sender leichtfertig. Indem sie ihre Moderatoren so gnadenlos durchformatieren wie ihre Programme. Manchmal, wenn ich aus unerfindlichen Gründen über eines der bayerischen Formatradios stolpere, frage ich mich ernsthaft, ob da ein Mensch moderiert oder vielleicht doch nur ein guter Sprechroboter.
(Kleiner Einschub: Exakt über dieses Thema habe ich mich vor gut einem Jahr mit der HR-Legende Werner Reinke und seiner wunderbaren Kollegin Marion Kuchenny unterhalten; vor diesem Hintergrund ist diese Podcast-Folge gleich nochmal etwas spannender geworden).
Was Gegner eines (Musik-)Algorithmus immer wieder gerne ins Feld führen: Es sei doch schade, wenn Musik so erwartbar sei, immer das Gleiche komme und man sich überhaupt nicht mehr überraschen lasse. Alles richtig. Und gleichzeitig das beste Argument gegen Formatradios. Kein Algorithmus kann jemals so öde sein wie die Heavy Rotation eines Formatradios.
Ein großer Schritt in die neue Audio-Welt
Zudem handelt es sich bei „Daily Drive“ nicht einfach nur auf eine Attacke auf das Formatradio. „Daily Drive“ ist ein großer Schritt in die neue Welt des Audios. Audio wird, so viel lässt sich sicher sagen, sowohl inhaltlich als auch strategisch mindestens so wichtig wie Video; womöglich sogar noch wichtiger. Weil Audio überall und schnell zu konsumieren ist, weil Hardware wie Bluetooth-Kopfhörer den Konsum noch leichter machen. Und weil man sie mühelos über das Zentrum unseres täglichen Lebens, des Smartphones, aus- und abspielen kann.
Kurz gesagt: Da entsteht in den kommenden Jahren ein riesengroßer Markt. Die ganzen Spotifys, Amazons, Googles, Deezers brauchen Inhalte, weil sie diese Inhalte kaum selbst erstellen werden. Dass die meisten Tageszeitungen diese Entwicklung mal wieder komplett verschlafen, wundert niemanden, der sich mit dem Medienmarkt der letzten 20 Jahre beschäftigt hat. Sie brauchen aktuelles Material, gute Podcasts und vermutlich noch viele andere Formate, an die wir heute noch gar nicht denken. Kann es sein, dass es ausgerechnet Gabor Steingart ist, der als einziger die grundsätzliche Dimension dieser Entwicklung begriffen hat (bitte lesen Sie hier noch einen großen Seufzer mit)?
Dabei befinden wir uns gerade am Beginn. „Daily Drive“ ist erst der Anfang, an dessen Ende viele neue Audio-Unternehmen stehen werden, die Komplettangebote liefern: Vom Podcast über das simulierte Live-Programm, von Alexa bis hin zu allem anderen, was sich irgendwie mit Sprache steuern und bespielen lässt.
Grund genug für Sender, Verlage und auch Journalisten, sich warm anzuziehen. Wenn sie allerdings schlau sind, begreifen sie das als Chance. Wenn sie dumm sind, fordern sie ein Leistungsschutzrecht für Audios.
Soziale Netzwerke verkommen zur 360-Grad-Hölle. Was schade ist, weil sie mal ein Ort waren, an denen man sogar sowas wie Erkenntnis gewinnen konnte. Heute muss man froh sein, wenn man nicht sofort niedergebrüllt wird. Read More
Foto: Pete Linforth/Pixabay
Irgendwann in den letzten Tagen muss der Kabarettist Dieter Nuhr ein paar Späßchen über Gerta Thunberg gemacht haben. Ich habe sie nicht selber gesehen, bin aber kurz darauf am Thema Dieter Nuhr nicht mehr vorbeigekommen. Bei Twitter erntete Nuhr einen Shitstorm der Kategorie A und überhaupt waren sich viele Menschen einig: Der Nuhr hat seine besten Zeiten hinter sich. Und es gab sogar welche, die ernsthaft forderten, der öffentlich-rechtliche Rundfunk solle Nuhr nicht mehr auf den Schirm lassen (interessant übrigens, dass sich bei solchen Forderungen Menschen auf der linken und der sehr rechten Seite des politischen Spektrums nicht unähnlich sind).
Soweit ich das im Nachhinein übersehen habe, waren Nuhrs Späße nicht übermäßig geistreich, man muss sie (und ihn) auch nicht zwingend mögen. Keinesfalls aber waren sie anstößig, geschmacklos oder sonst irgendwas, was zu so viel Aufregung hätte führen müssen. Es sei denn, die Empörungsmaschine Social Media läuft richtig heiß.
Einigermaßen zeitgleich wagten auch die Redakteure der „Zeit“ ungeheuerliches: Im Ressort „Streit“ ließen sie Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und den ehemaligen Innenminister Baum gegeneinander antreten. Maaßen ist bekannt dafür, auf dem rechten Flügel der Union zu stehen. Mit Rechtsradikalen ist er in seiner Zeit als Verfassungsschützer vergleichsweise mild umgegangen. Das und ein paar andere Sachen haben ihn dann seinen Job gekostet.
Im Streitgespräch in der „Zeit“ hat Maaßen denn auch nichts Überraschendes gesagt. Er hat seine Positionen dargelegt, so wie es auf der Gegenseite Baum ebenfalls tat. Ein normaler Vorgang in der Demokratie, in einem Streitgespräch zudem, meinen Sie? Den wütenden Kommentaren bei Twitter zufolge hätte man glauben können, die Zeit habe bekannt gegeben, künftig offizielles Parteiorgan der AfD zu sein.
Und nochmals zeitgleich eine ganz persönliche Beobachtung bei mir selbst: Bei Twitter und auch in anderen sozialen Netzwerken, in denen man schnell in eine Debatte hineingezogen werden kann, lese ich zunehmend mehr nur noch mit. Manchmal nicht mal mehr das. Mit Meinungsposts halte ich mich zurück und bei Instagram genieße ich es, dass es meistens einfach nur Fotos sind, die jemand postet. Kein Streit, kein Gebrüll, kein gegenseitiges Blockieren. Keine Shitstorms (zumindest meistens nicht).
Was ich umgekehrt nicht kapiere: Weder muss ich Nuhrs noch Maaßens Sicht der Dinge teilen, ich kann sie sogar für ausgesprochen blödsinnig halten (muss man auf der anderen Seite aber auch nicht). Wenn allerdings das Aussprechen wenig überraschender noch irgendwie verbotener Positionen zu einem solchen Drama einschließlich Forderungen nach einem Sendeverbot führen, haben wir ein veritables Problem.
Ein Hort der selbstverliebten Rechthaberei
Dabei gehöre ich nicht zu den Menschen, die mehr oder weniger theatralisch posten, sich aus den Netzwerken zurückzuziehen. Das habe ich auch nicht vor, es ist nur: so eine Art schleichender Prozess. Zu viel Rechthaberei, zu viele selbstverliebte Oberflächensurfer, zu viel plakatives entweder-oder. Sascha Lobo beispielsweise, der Großmeister des Plakativen, schrieb vergangene Woche in seiner Kolumne, die Greta-Hater seien die verbitterten Fensterrentner des Internet. Jubel in der Gemeinde, sowas lässt sich auch prima als Share-Pic posten (das ist das, was mich bei Lobo seit längerem stört; ich werde das Gefühl nicht los, dass selbst seine besseren Texte in erster Linie auf Social-Media-Tauglichkeit hin geschrieben werden).
Und in dem Moment, in dem ich das schreibe, ertappe ich mich bei einem wirklich saublöden Gedanken: Du müsstest jetzt, denke ich mir, schon erklären, natürlich tendenziell auf der Seite der Klimaschützer zu stehen, auch wenn ich Fräulein Thunbergs Auftritt von den Vereinten Nationen komplett daneben fand. Der Gedanke des Sich-Erklären-Müssens ist so saublöd wie bezeichnend zugleich. Wenn ich nicht juble, wenn Greta Thunberg etwas macht, bin ich automatisch böse, ein Fensterrentner, ein Klimaleugner? Natürlich nicht, aber in der Welt der 280 Zeichen, des Likens, Sharens und der ideologischen Eindeutigkeiten bleibt für die Zwischentöne wenig Platz. Die Großmeister des digitalen Publizierens haben das bestens begriffen. Und auch hier gilt: Der Unterschied zwischen rechts und links ist so groß nicht, beiden haftet etwas Autoritäres und Endgültiges an.
Das alles hat mit meinem grundsätzlichen Gedanken, als Journalist müsse man sich der öffentlichen Debatte stellen, nicht mehr viel zu tun. Weil es sich nicht um Debatten handelt, sondern zunehmend mehr um das Schema: Wer lauter brüllt, hat recht. Natürlich könnte man jetzt argumentieren: Man darf das Netz nicht den Schreihälsen überlassen. Daran ist schon was, ich fürchte nur, dass es dafür zu spät ist. Davon abgesehen, dass das soziale Netz in seiner Grundstruktur Diskussionen in allen Grautönen eher nicht fördert.
Ist das Journalismus, Debatte, Demokratie? Nein, weil all das Zuhören voraussetzen würde. Das, und die Idee, dass es neben dem eigenen viele andere legitime Weltbilder gibt. Mein Lieblingssatz wird in den USA gerne benutzt; zumindest wurde er das früher, ehe im Zeitalter der dröhnenden sozialen Netzwerke und noch lauter dröhnenden Präsidenten auch dort diese Idee unterging: We agree to disagree. Das funktioniert zunehmend weniger, in lauten Echokammern sowieso nicht.
Natürlich bleibe ich weiter bei Twitter und bei Facebook, schon alleine aus treudeutschem beruflichem Pflichtbewusstsein. Der Spaß, den es mir mal gemacht hat, ist allerdings zu einem großen Teil abhanden gekommen.
Was ist wichtig, was nicht? Eine Frage, die sich in Zeiten des digitalen Overflows meistens nur noch mit „Kommt drauf an“ beantworten lässt. Weswegen Journalisten und Medien immer häufiger Weltbilder und Sichtweisen verkaufen. Das hat grundlegende Auswirkungen auf das Geschäftsmodell. Weil Weltbilder wichtiger sind als vermeintliche Kostenlos-Mentalität oder Lesefaulheit. Read More
In Kanada ist in rund 300.000 Haushalten der Strom ausgefallen. Eine eher uninteressante Nachricht, finden Sie? Da würde ich Ihnen recht geben. Bei den Kollegen vom „Spiegel“ steht Sie dennoch gerade eben (Stand: Sonntag morgen, 7 Uhr) ziemlich weit oben.
Das hat weniger mit dem Stromausfall zu tun als damit, dass er vom Hurrikan „Dorian“ ausgelöst wurde. Sie wissen schon, dieses Monster, das seit gut einer Woche durch die deutschen Medien geistert und sich seitdem beharrlich weigert, das zu tun, was man von ihm erwartet. Dabei hatte man ihm so viele Chancen gegeben: Florida, Georgia, die Carolinas, Virginia. Nirgendwo ist etwas Nennenswertes passiert, da muss man jetzt doch prominent melden, dass er in Kanada ein bisschen was angerichtet hat. Sonst wären ja die ganzen Meldungen aus der vergangenen Woche, nach denen sich Millionen auf der Flucht befanden, völlig für die Katz gewesen.
Deutlich weiter unten findet sich auf der Spiegel-Seite noch etwas: ein kurzes Video über die aktuelle Lage der Bahamas. Von der Inselgruppe vor der US-Ostküste fliehen gerade (diesmal wirklich!) ein paar Tausend Menschen. Dort hat „Dorian“ nämlich wirklich gewütet. Bisher gibt es mindestens 43 Tote, ganze Orte sind ausradiert, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, Hilfe und Spenden, vornehmlich aus den USA, kommen erst sehr langsam an.
Bahamas kaputt? In den USA Top-Thema, hier eher langweilig
In den letzten Wochen war ich in den USA. Und wenn ich dort etwas – endgültig – gelernt habe, dann das: Journalismus, Medien, Information, all das Zeug, das uns täglich umgibt – es ist alles nur eine Frage der Perspektive. Und wie das so ist mit Perspektiven: Sie sind selten richtig oder falsch. Nur anders.
Das kleine Beispiel vom „Spiegel“ und dem kanadischen Stromausfall zeigt das ganz wunderbar. In Deutschland sind die Bahamas eine karibische Inselgruppe, Kategorie „Exotisches Urlaubsziel“. Im Süden der USA liegen sie vor der eigenen Haustür. Dorr also berichtet man täglich groß über das Elend der Bahamas, während uns das in Deutschland eher kalt lässt. Zeitungen wie beispielsweise die SZ berichten darüber eher als Randnotiz:
Schwerpunkt in der SZ: Es regnet in North Carolina.
Gemessen daran, wie sehr man in der vergangenen Woche über „Dorian“ berichtet hat: ein Witz.
Dabei lässt sich diese Unwucht wenigstens teilweise einfach erklären: Die USA sind uns näher als die Bahamas. Und vermeintliche Millionen Amerikaner auf der Flucht lassen sich zudem besser verkaufen als Tote und Obdachlose auf einer Karibikinsel.
Schwerpunkt in den USA: Die Bahamas sind von einer schweren Naturkatastrophe heimgesucht worden.
Was mir nebenher noch etwas Zweites klargemacht hat: Journalismus ist Business, allen Sonntagsreden zum Trotz. Weil der Mensch nur begrenzt aufnahmefähig ist, muss Journalismus selektieren. Und weil er sich ja auch verkaufen und finanzieren muss, selektiert er so, dass seine Angebote in seiner Zielgruppe gut laufen: siehe Bahamas und der kanadische Stromausfall.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das ist legitim und vermutlich auch gar nicht anders möglich. Man muss sich dessen nur bewusst sein, wenn man irgendwann mal wieder debattieren will, ob der Journalismus etwas richtig oder falsch abbildet. Die Antwort auf diese Frage wäre meistens ein entschlossenes: kommt drauf an.
Greta: In den USA mäßig bekannt, in Deutschland ein Top-Thema
Dabei geht es nicht nur um die nackte Information, sondern um ganze Weltbilder. Auch die sind relativ, wie der Blick auf Medien in Deutschland und den USA zeigt. Während also beispielsweise in den letzten zwei Wochen Greta Thunberg und ihr Segeltrip in die USA ein mediales Dauerthema waren, interessierte man sich drüben eher mäßig dafür. Und wenn, dann oft mit skeptischem Unterton.
Eine kleine Spielerei zum Vergleich: Sucht man auf der Webseite des „Miami Herald“ nach dem Namen Greta Thunberg, kommt man auf 33 Treffer. Bei der „Süddeutschen Zeitung“ sind über 1200. Was richtig oder falsch ist, will ich nicht bewerten. Aber dass es kein großes Wunder ist, wenn Greta in den USA eher einer Randnotiz ist, ist klar. Dass man ihr umgekehrt in Deutschland eine sehr viel größere Bedeutung zuschreibt, ebenfalls.
Was wiederum Auswirkungen auf die Sichtweise hat (oder vielleicht hat auch die Sichtweise Auswirkungen auf die Berichterstattung): In den USA wundert man sich ein bisschen über uns Deutsche und ihre Klima-Spinnerei, während wir Deutschen kaum aus dem Staunen herauskommen, wie sorglos die Amerikaner mit dem Thema umgehen (die Spiegel-Kollegin Anna Clauß hat das unlängst anschaulich erzählt).
Vom Journalismus erwartet man gerne so etwas wie Wahrhaftigkeit; das ist ein Begriff, der in gefühlt jeder Sonntagsrede zur Zukunft der Branche auftaucht. Logisch, weil: Wer kann schon ernsthaft etwas gegen Wahrhaftigkeit haben? Bei näherem Hinsehen wird allerdings schnell klar, dass man diesen Begriff zwar gerne verwenden, ihn aber schlecht mit Leben füllen kann. Weil die Frage offen bleibt: Was genau ist jetzt wahrhaftig? Die Greta mit 33 Suchergebnissen oder doch die mit über tausend? Der Stromausfall in Kanada oder die Naturkatastrophe auf den Bahamas?
Journalisten setzen Agenden – ob sie wollen oder nicht
Ob sie wollen oder nicht: In dem Moment, in dem Journalisten eine Auswahl treffen (und das tun sie naturgemäß andauernd), setzen sie eine Agenda. Man kann als Nutzer eine solche Agenda für sich selbst als relevant oder eher nicht erachten. Sie aber als falsch zu bezeichnen, ist in den allermeisten Fällen Unfug.
Für Journalisten wird die Welt dadurch aber kein bisschen leichter. Weil ihren Usern zunehmend mehr klar gibt, dass es sehr viel mehr Weltbilder und „Wahrheiten“ gibt als die, die sie von Journalisten bekommen. Im schlimmsten Fall brüllen sie dann „Lügenpresse“, in leichteren Fällen erkennen sie zumindest, dass man die Welt so sehen kann wie Journalisten, das aber nicht zwingend tun muss.
Das hat auch Auswirkungen auf den ökonomischen Teil der Branche. Ich bin mir sicher, dass es beim leidigen Thema „Bezahlen für Inhalt“ gar nicht mal so sehr um vermeintliche Gratis-Mentalität geht. Sondern eher darum, dass sich die Sichtweise des Nutzers auf das Produkt gewandelt hat. Weil er realisiert, dass er dabei gar nicht für die endgültige Sicht der Dinge und die ultimative Auswahl des Weltgeschehens bezahlt. Sondern für eine höchst subjektive Auswahl von Informationen und Meinungen.
So gesehen macht es nicht viel Sinn, wenn man Journalisten noch mehr Wahrhaftigkeit und vermeintliche Objektivitität zur Stärkung des Geschäftsmodells empfiehlt. Eher wird umgekehrt ein Schuh daraus: Strikte Orientierung an dem, was Kunden wollen.
Für fast jede Selektion gibt es gute Gründe
Das bedeutet aber auch: Journalisten sollten sich von der Idee verabschieden, irgendjemand missionieren zu können oder gar zu müssen. Wenn die SZ über tausend Mal über Greta berichtet, wird sie wissen warum. Wenn dem „Miami Herald“ 30 Nennungen genug sind, wird das ebenfalls Gründe haben.
Es geht also, ob Journalisten das gefällt oder nicht, weder um mehr Wahrhaftigkeit noch um die ebenfalls gern geäußerte, dennoch unsinnige These, „die Leute“ würden einfach nicht mehr so gerne lesen wegen der bösen Smartphones. Es geht ums Geschäft. Darum, mit seiner Auswahl von Informationen und ihrer Bewertung so nah wie möglich an denen zu sein, die dafür bezahlen (klingt verflixt unromantisch, ich weiß). Deswegen sind die Zeiten auch so schwer für alle geworden, die für sich in Anspruch nehmen, eine Art übergeordnete Instanz für alle zu sein: Tageszeitungen oder öffentlich-rechtlicher Rundfunk beispielsweise. Aber wenn eine Gesellschaft in jeder Hinsicht mehr und mehr zersplittert, wenn es plötzlich Sechs-Parteien-Parlamente und enorm viele Singulär-Interessen gibt, wäre es ein Wunder, würde diese Entwicklung an Medien vorbeigehen.
In den letzten Tagen habe ich erstaunlich viele Nachrichten bekommen. Ihr Tenor (hier aus Gründen des Clickbaiting leicht zugespitzt): Bist du noch am Leben? Der Grund für die im Stundentakt eintreffenden besorgten Nachrichten: Ich halte mich seit knapp zwei Wochen in einem Katastrophengebiet auf. In Miami.Read More
Ok, wenn ich jetzt gerade aus dem Fenster sehe: Katastrophengebiet ist etwas übertrieben. Es ist ungefähr so windig wie an einem halbwegs normalen deutschen Herbsttag. Regen? Immer wieder mal ein paar Tropfen, das ist hier um diese Jahreszeit immer so? Ansonsten: Business as usual.
Und damit zu den Schlagzeilen deutscher Medien aus den vergangenen Tagen:
1 Million Menschen auf der Flucht!
Ostküste Floridas evakuiert!
Weite Teile der US-Ostküste evakuiert!
Undsoweiter.
Ähmmm….nö.
Geflüchtet ist hier niemand. Nicht hier, nicht weiter oben im Norden. Florida wurde, von ganz wenigen Ausnahmen in tiefer gelegenen Gebieten und in vorgelagerten Inseln, überhaupt nicht evakuiert. Der Notstand, wie berichtet, wurde zwar tatsächlich ausgerufen. Aber das ist in den USA eher ein formaler Akt, der häufig schon vor einem drohenden Unheil vorgenommen wird. Das hat damit zu tun, dass dieser Staat dann leichter Bundeshilfen anfordern kann. Wenn also irgendwo in den USA der Notstand ausgerufen wird, heißt das nicht, dass er schon eingetroffen ist. Es bedeutet nur, dass er eintreffen könnte.
Und ja, tatsächlich sind die Menschen hier beim Heraufziehen des Sturms in die Supermärkte gegangen und zu den Tankstellen gefahren, um sich mit Vorräten einzudecken. Es wäre auch dumm, das nicht zu tun. Der Betrieb war vergleichbar mit Deutschland ein paar Tage vor Weihnachten. Mehr los als sonst, aber nichts wirklich Wildes. Unser Tank war jedenfalls voll, unser Kühlschrank auch. Und die Leute waren ziemlich entspannt. Panik? Flucht? Wenigstens Angst? Nicht die Spur. Nicht mal bei uns, die wir einen richtigen Hurrikan noch nie mitgemacht haben.
Bitte nicht mehr als (umgerechnet) 15 Liter Wasser kaufen – Szene aus einem „Notstandsgebiet“…
Langweilige Geschichte also?
Wenn Sie so wollen: ja. Mit dieser Erzählung würde ich vermutlich nicht mal ein paar Freunde nach meiner Rückkehr zuhause beeindrucken. Das Dumme daran: Mit der Geschichte, so erzählt, würde man auch User einer Webseite, Leser einer Zeitung oder Zuschauer im Fernsehen eher langweilen.
Ja, aber – was ist mit den Bahamas, Georgia und den Carolinas?
Auf die dann tatsächlich eingetretene Naturkatastrophe auf den Bahamas kamen die deutschen Redaktionen erst, als sich das schaurig-schöne Narrativ von den bedrohten Millionen im Sunshine State Florida durch nichts mehr aufrecht erhalten ließ. Florida, Miami, USA, das kennt man halt, die Bahamas als kleine Inselgruppe im Atlantik eher nicht.
Irgendeinen anderen Dreh als 5 Tote auf einer kleinen Inselgruppe muss man doch irgendwie hinbekommen, dachte man sich dann anscheinend in manchen Redaktionen. Und handelten dann so, wie man es sich vorher in den schönsten Klischees hätte ausmalen können: Die „Süddeutsche“, der „Spiegel“, die „taz“ und die „Zeit“ schrieben Geschichten, dass solche Stürme künftig häufiger und schwerer ausfallen könnten (Klimawandel!). Hm. Mag sein. Lässt sich weder abstreiten noch belegen. Allerdings erinnere ich mich, dass der immer noch schwerste Hurrikan der US-Geschichte „Andrew“ nunmehr bald 30 Jahre zurückliegt und deswegen so zerstörerisch war, weil sich sein Verlauf kaum prognostizieren ließ und er kurz vor seinem Landfall die Richtung änderte.
Kommt Ihnen bekannt vor? Das sagt man über „Dorian“ gerade auch: Ursprünglich vermutete man ihn über Puerto Rico, er traf dann aber die Bahamas. Man erwartete einen Kategorie-5-Sturm über ganz Florida. Inzwischen sind wir bei Kategorie 3 und ob der Sturm jemals amerikanisches Festland erreichen wird, ist hochgradig unsicher. Laut Behörden ist es nicht „completly ruled out“. Übersetzt heißt das: sehr unwahrscheinlich. Jeder Offizielle, der etwas anderes behauptet, würde sich im klagewütigen Amerika einem unkalkulierbaren Risiko aussetzen.
Bei der „Bild“, die es mit Klimawandel nicht so hat, holte man sich als General-Absolution den hauseigenen Wetterexperten, der vor allem dadurch auffällt, regelmäßig Russen-Peitschen und Sahara-Hitzewellen anzukündigen, die meistens leichte Minus-Temperaturen sind oder ab und an mal drei Tage Hitze. Wenn es dann nicht so kommt, erklärt er gerne, warum das Wetter immer unberechenbarer wird (die Kollegen der SZ würden hier jetzt rufen: Klimawandel!). Der Bild-Wettermann jedenfalls erklärte dann heute, dass die Prognosen für Hurrikan-Stürme aus vielerlei Gründen wahnsinnig schwierig seien.
Womit er uns, wenn auch ungewollt, auf den journalistischen Kern der Geschichte zurückbringt. Ein Sturm über dem Atlantik ist immer eine potentielle Bedrohung. Was danach passiert, entscheidet sich leider erst kurzfristig, das macht die Sache ja so gefährlich. Alles andere ist Spekulation.
Trotzdem hat sich speziell bei dieser Thematik ein Automatismus entwickelt (leider auch in US-Medien, weswegen manche Politiker schon klagen, dass die Unwetter-Warnungen zunehmend weniger ernst genommen würden): Tödliche Bedrohungen ziehen herauf, Millionen Menschen sind auf der Flucht, rette sich, wer kann – und am Ende kommt es doch anders. Vor zwei Jahren beispielsweise waren wir an der Westküste Floridas, als Hurrikan „Irma“ im Anmarsch war. Die ganze Westküste wurde damals evakuiert, es sollte der schlimmste Sturm seit 100 Jahren dort werden. Tatsächlich traf „Irma“ in Miami auf Land, rund 500 Kilometer entfernt. Die Schäden blieben überschaubar, heute erinnert sich fast niemand mehr an „Irma“.
Das Interessante daran: Unterhält man sich mit Menschen in Florida, entdeckt man eine Gelassenheit, die diametral entgegengesetzt zum medialen Alarmismus steht. Wer hier länger lebt, macht das Spiel jedes Jahr mit. An den Highways hängen Plakate zur „Hurrican Season“: Be prepared, have a Plan! Das haben die allermeisten hier auch. So wie in Bayern die meisten Autofahrer routinemäßig ab Oktober die Winterreifen aufziehen.
Warum erzähle ich diese längliche Geschichte überhaupt? Sie ist in ihrer ganzen Banalität bezeichnend für das, was Journalismus zunehmend mehr in die Krise bringt. Weil er sich aus mehreren Gründen von der Realität und der Lebenswelt der Menschen immer mehr entfernt. Wer die ganzen Tage die Katastrophenszenarien liest und dann aus dem Fenster sieht, muss nicht gleich „Lügenpresse“ und „Fake News“ brüllen. Aber zumindest wundern darf er sich und leise Zweifel anmelden an der Vertrauenswürdigkeit des Mediums seiner Wahl.
Dabei kann ich schon halbwegs gut nachvollziehen, wie solche Dinge passieren. Auch das ist bezeichnend für vieles, was im Journalismus gerade passiert.
Erstens: Schneller, höher, weiter. Und spektakulärer. Ich gehöre tendenziell zu den Technik-Optimisten. Ich sehe aber auch, was das digitale Dauerfeuer aus Usern und Journalisten macht. Die Geschichte „Sturm über dem Atlantik, der sich möglicherweise zu einem Hurrikan entwickelt, das weiß man aber nicht genau“ interessiert niemanden. Die angebliche Million an Menschen, die „auf der Flucht“ sind, zieht ganz anders.
Zweitens: Keine Zeit zur Recherche und zum Fakt-Checking. Wer jemals am Desk einer Nachrichtenredaktion einer Webseite saß, der weiß, dass hier zwangsweise in einer Acht-Stunden-Maschinerie Geschichten rausgehauen werden. Bei manchen mehr, bei anderen weniger. Dass jemand die Zeit hätte, eine Geschichte nachzurecherchieren, noch dazu, wo sie möglicherweise von einer der geheiligten Agenturen kommt, ist utopisch. Man schaut bestenfalls, was die anderen machen. Und wenn die schreiben, dass in den USA Panik und Chaos herrschen, dann ist ja alles gut. Ein paar Klicks auf die Webseite beispielsweise des „Miami Herald“ hätten schnell gezeigt, dass die Geschichte von den Millionen, die angeblich auf der Flucht sind, schlichtweg nicht stimmt.
Drittens: Journalisten folgen dem eigenen Narrativ. Ich weiß, von einer Fehleinschätzung der Lage in Florida bis hin zu Relotius-Fälschungen ist es ein weiter Weg. Das Problem ist trotzdem das gleiche: Journalisten glauben etwas, weil sie etwas glauben wollen. USA, Florida, Hurrikan, Katastrophe, Flucht, klingt doch prima, was soll falsch sein daran? Das ist in dem Fall eher harmlos, zugegeben auch wenn die daraus resultierenden Klimawandel-Geschichten schon wieder einen ideologischen Dreh bekommen.
Aber das geht dann eben weiter bei den Geschichten über die Politik in den USA, wo es vor allem Journalisten waren, die einen Wahlsieg Trumps für ausgeschlossen hielten. Durchschnitts-Amerikaner jedenfalls waren und sind darüber keineswegs so erstaunt wie wir Journalisten. Was weniger mit Trump zu tun haben dürfte, sondern damit, dass Journalisten sich häufig von der Vorstellung leiten lassen, ihre eigene Realität müsse auch die der anderen sein.
Klar, niemand ist in Deutschland zu Schaden gekommen durch die neue Hurrikan-Posse (das Spiel wiederholt sich de facto ja schon seit Jahren). Im Zeitalter digitaler Hektik ist das genauso schnell vergessen wie fast alles andere, morgen weiß niemand mehr, wer „Dorian“ war.
Dass sich allerdings immer mehr Menschen ihre Informationen dort holen, wo man ihnen vermeintlich noch vertrauen kann, dieses Problem wird den klassischen Journalismus mehr und mehr begleiten. Das kann an den Leuten liegen. Vielleicht aber auch an den eigenen Strukturen, der Selbstverliebtheit und der Betriebsblindheit.
Rezo hat ein neues Video veröffentlicht (genauer gesagt: er tritt in einem Video bei anderen YouTubern auf). Er hofft erkennbar auf eine Wiederholung des spektakulären CDU-Zerstörer-Videos. Was er abliefert, ist ein müder Aufguss altbekannter Schenkelklopfer und (ungewollt) eine wunderbare Zustandsbeschreibung des medial-digitalen Elends des Jahres 2019. Read More
Rezo mag Tageszeitungen, speziell die „Bild“, nicht sonderlich. Das wäre bis vor einem Vierteljahr niemandem eine Schlagzeile wert gewesen, womöglich nicht mal einen Klick. Schaut man sich das Video an, muss man sagen: zurecht. Rezo haut in bekanntem Duktus drauf, offensichtlich inspiriert von der Hoffnung, dass es demnächst heißen wird: Nach der CDU hat er jetzt auch die Zeitungen zerstört. Ähnlich platt-pauschalisierend mit Hang zur pathetischen Theatralik wie beim Klima-Video („Die CDU macht unser Klima kaputt, echt krass, Alter“) schwafelt er jetzt auch über Zeitungen und Journalisten. Erkenntniswert: null. Unterhaltungswert: knapp über Luke Mockridge im Fernsehgarten. Alles so gehalten, dass es eine Social-Media-Gesellschaft verstehen und weiterteilen kann: Pauschalisierungen und Plattitüden allerorten.
Vielleicht war das früher auch schon so, möglicherweise ist es auch nur ein Phänomen dieser Zeit. Wie auch immer, wer differenziert, wer erkennt, dass es zwischen Schwarz und Weiß meistens ganz viele Grautöne gibt (und grau ist bekanntermaßen langweilig), der hat im Netz schon verloren. Jeder Text brauche eine Punchline, hat Sascha Lobo mal geschrieben/gesagt und damit das ganze Elend prima beschrieben: Die Punchline kann auch platt und hanebüchen sein. Hauptsache, es gibt eine.
Der fatale Hang zur Punchline
Soziale Netzwerke, Smartphone, Echtzeit: Das alles verstärkt den fatalen Hang zur Punchline noch. Wer jemals versucht hat, bei Twitter eine differenzierte, sachliche und argumentationsgetriebene Debatte hinzubekommen, weiß, was ich meine. Irgendwann kommt jemand und brüllt den ganzen Laden nieder. Wobei, zugegeben: Die Grundidee alleine ist ja schon absurd, dass man es auf 240 Zeichen hinbekommen könnte, ein komplexes Thema argumentativ vernünftig aufzubereiten. Oder in einem Dreiminüter bei YouTube. Oder einem Share-Pic. Da muss zugespitzt und polemisiert werden, sonst nimmt dich keiner wahr, Baby.
Zudem widerspräche das einer weiteren grundlegenden Idee des (sozialen) Netzes: dass Dinge geteilt werden sollen.
Der Impuls wird eher durch ein „Genau so ist es!“ als durch ein gefühltes „Müsste man sich noch mal ausführlich durch den Kopf gehen lassen“ ausgelöst. Schon mal drüber nachgedacht, warum Populisten aller Herren Länder die erfolgreichsten Nutzer sozialer Medien sind? Warum keine Partei in Deutschland bei Facebook und Twitter so erfolgreich ist wie die AfD?
Wer braucht Bildblog, wenn er Rezo hat?
Das ist bei Rezo nicht viel anders: Ein paar mittelflotte Sprüche im Krass-Alter-Duktus lassen sich schneller teilen als wenn beispielsweise die Kollegen vom „Bildblog“ in langen und intensiven Recherchen erklären, was genau an einer Geschichte aus „Bild“ so falsch ist. Und die Schlussfolgerung, dass (Zeitungs-)Journalisten alle doof sind, begreift auch der flachgeistigste YouTuber. Würde man ihm sagen, dass es auch bei der „Bild“ ausgezeichnete Journalisten gibt, würde das nur das Weltbild stören.
Die Erkenntnis ist nicht neu, in diesem Zusammenhang aber interessant: Ein beträchtlicher Teil der Nutzer teilt Geschichten im Netz, ohne sie überhaupt gelesen zu haben. Man geht dem confirmationbias auf den Leim. Journalisten sind doof, die Bild ganz besonders? Krass ey, gleich mal teilen. Die CDU macht das Klima kaputt, Merkel ist doof, es gibt genügend dieser Dinge, die man raushauen kann, ohne sie gelesen zu haben. Da machen linke, rechte und junge Populisten keinen Unterschied.
Und schließlich: Zu den Tücken des confirmation bias gehört auch, dass die eigene Überheblichkeit und Ignoranz nicht gestört werden. Rezo, der das Print-Zeug angeblich nie liest und sich lautstark wundert, „wer so was zuhause hat“ (jeden Tag ein paar Millionen, Meister, darüber kannste jetzt mal nachdenken), ist so ein Inbegriff digtal-urbaner Großstadt-Arroganz: Das eigene Weltbild für die einzige Möglichkeit halten und sich gleichzeitig wundern, wenn das andere nicht so sehen. Da erstaunt es nicht, wenn eine Gesellschaft immer weiter auseinander driftet.
Huhu, PR-Agenturen, heute gibt es mal ein paar kleine Tipps vom Journalisten für euch. Ganz kostenlos und ohne jede weitere Verpflichtung (gern geschehen)! Read More
Weil, die Sache ist so: Ich habe mit euch in den letzten Jahren so viel zu tun, dass sich der Verdacht ein wenig aufdrängt, dass es von euch inzwischen für jeden Journalisten zwei gibt. Das ist, ich gebe es gerne zu, auf der einen Seite manchmal ganz angenehm. Manchmal handelt es sich dabei auch um eine Form der fürsorglichen Belagerung. Es gibt Tage, da bin ich eine Stunde damit beschäftigt, mich mit euch zu beschäftigen. Das ist ein bisschen arg viel, zumal: Ich melde mich schon, wenn ich was von euch brauche. Wenn ich etwas nicht brauche, macht nix, kommt vor. Aber was ich noch weniger brauche sind Nachfragen, warum ich was nicht brauchen kann.
Weil wir gerade so nett miteinander plaudern, ein paar Dinge, die ich nur mittelgut finde:
Erstens: Ich finde es ganz prima, wenn ich halbwegs höflich behandelt werde und wenn ich das Gefühl habe, ein persönlicher und halbwegs liebevoll gepflegter Kontakt zu sein. Wenn ihr mich mit Namen anredet, freue ich mich. Und wenn ihr mir Vorschläge macht, ist das schon in Ordnung. Aber ich möchte mich nur ungern zu etwas verpflichtet fühlen. Zur Verdeutlichung diese Original-Mail aus meinem heutigen Posteingang:
Die Nachricht hätte vermutlich schon alleine mit einer Anrede gewonnen und mit einer freundlichen Verabschiedung und vermutlich auch dadurch, wenn nicht am Ende die fordernde Nachfrage „Hast du es geschafft…?“ gestanden wäre. Davon abgesehen freue ich mich immer, wenn ich von mir unbekannten Menschen nicht einfach geduzt werde, da bin ich vergleichsweise konservativ. (Notabene: Der Inhalt der sogenannten „Recherche“ war in etwa von der Qualität des Anschreibens).
Ansonsten: Nee, ich halte PR keineswegs für etwas Anstößiges und höre mir beinahe alles geduldig an. Ich bin allerdings immer noch Journalist und kein Dienstleister für Agenturen. Was wiederum bedeutet: Auf Nachfragen, wann etwas endlich fertig sei und wann ich denn einen Beitrag zur „Abnahme“ schicken könnte, reagiere ich einigermaßen elektrisch.
Und schließlich: Journalisten freuen sich, wenn man das Gefühl hat, jemand hat in etwa eine Ahnung von dem, mit was sie sich befassen. Ich hätte in den vergangenen drei Jahren ungefähr 200 Bücher lesen können, die man mir zuschicken wollte. ich lese leidenschaftlich gerne, aber leider waren ungefähr 95 Prozent der zur Besprechung angebotenen Bücher aus Genres, mit denen ich ungefähr nichts zu tun habe. Das gilt übrigens für viele andere Bereiche auch. Für den Podcast „Digitale Viertelstunde“ beispielsweise freue ich mich ja immer, wenn jemand einen interessanten Gesprächspartner kennt. Nur ein bisschen was sollte derjenige dann schon mit dem Thema der „Viertelstunde“ zu tun haben. Falls Sie unsicher sind: Es hilft ungemein, wenn man sich mal eine Ausgabe anhört.
Das war dann auch schon alles, was ich loswerden wollte. Wir sind dann auch beste Freunde oder arbeiten zumindest vernünftig zusammen, versprochen.